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Die Habitus-Theorie von Pierre Bourdieu, Skripte von Soziologie

Art: Skripte

2020/2021

Hochgeladen am 23.09.2021

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Die Habitus-Theorie von Pierre Bourdieu
Von Joseph Jurt
Bourdieu sah sich vor die Aufgabe gestellt, die Vorstellung einer totalen Freiheit des
Individuums, die ihm als eine Projektion der privilegierten Situation der Intellek-
tuellen erschien, zu überwinden, ohne ins Gegenteil zu verfallen, in die Vorstellung
einer völligen Determination des Menschen, die freilich nicht mehr biologisch be-
stimmt wurde wie zu Zeiten des Positivismus im 19. Jahrhundert, sondern eher kul-
turell als Determination durch Diskurssysteme, ökonomisch durch wirtschaftliche
Verhältnisse, sozial durch Klassenstrukturen. Es ging ihm darum, die Erfahrungen
der Akteure in ein Erklärungsmodell ihres Handelns zu integrieren. „Ich wollte,
wenn Sie so wollen“, erklärt er im Rückblick, „die leibhaftigen Akteure wieder ins
Spiel bringen, die durch Lévi-Strauss und die Strukturalisten, zumal Althusser, da-
durch eskamotiert worden waren, daß man sie zu Epiphänomenen der Struktur
erklärt hatte.“1
Bourdieu gelangte zu der Erkenntnis, dass Handeln nicht bloß Vollzug einer Regel
ist. Auf der Basis seiner Dispositionen kann ein Akteur „Spielzüge“ durchziehen,
die nicht vorhergesagt werden können. Es galt, das Paradox zu beschreiben, dass ein
Verhalten auf Ziele gerichtet sein kann, ohne bewusst durch sie geleitet zu sein. Der
Rekurs auf das Bewusstsein des Akteurs kann hier nicht weiterhelfen, das Prinzip
der Regel ebenso wenig. In seinen frühen Arbeiten griff Bourdieu auf Max Weber
zurück, der auch die Beziehung zwischen den objektiven Chancen und den subjekti-
ven Erwartungen thematisierte. Er bezog sich zunächst auf den Weberschen Begriff
des Ethos, um die Verinnerlichung objektiver Beziehungen zu bezeichnen.
1. Die Entstehung des Habitus-Begriffs: kollektive Denkformen
einer Epoche
Dann aber wird der Begriff des Habitus für ihn zu einer zentralen Kategorie. Zu-
nächst verwendete Bourdieu den Begriff des Habitus im Rückgriff auf Marcel Mauss,
um bestimmte Körperhaltungen zu beschreiben.2 Der Körper ist für ihn nicht bloß
eine Sache, ein „An-sich“ wie bei Sartre, die durch das Bewusstsein beherrscht wer-
den muss, sondern eine Ausdrucksweise, die auf kollektive Gewohnheiten verweist,
die von einer Gesellschaft zur anderen variieren. Bourdieu stellte das fest, als er die
Gangart der Bauern im Béarn beobachtete. Nach Mauss entstehen die Körperhal-
1 Pierre Bourdieu: Rede und Antwort. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. Frankfur t
am Main: Suhrkamp 1992. (= edition suhrkamp. 1547.) S. 28.
2 Siehe da zu Gisèle Sapiro: Une liberté contrainte. La formation de la théorie de l’habitus.
In: Pierre Bourdieu sociologue. Unter der Leitung von Louis Pinto, Gisèle Sapiro und Pat-èle Sapiro und Pat-
rick Champagne. In Zusammenarbeit mit Marie-Christine Rivière. [Paris:] Fayard 2004.
(= Historie de la pensée.) S. 49–78.
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Die Habitus-Theorie von Pierre Bourdieu

Von Joseph Jurt Bourdieu sah sich vor die Aufgabe gestellt, die Vorstellung einer totalen Freiheit des Individuums, die ihm als eine Projektion der privilegierten Situation der Intellek- tuellen erschien, zu überwinden, ohne ins Gegenteil zu verfallen, in die Vorstellung einer völligen Determination des Menschen, die freilich nicht mehr biologisch be- stimmt wurde wie zu Zeiten des Positivismus im 19. Jahrhundert, sondern eher kul- turell als Determination durch Diskurssysteme, ökonomisch durch wirtschaftliche Verhältnisse, sozial durch Klassenstrukturen. Es ging ihm darum, die Erfahrungen der Akteure in ein Erklärungsmodell ihres Handelns zu integrieren. „Ich wollte, wenn Sie so wollen“, erklärt er im Rückblick, „die leibhaftigen Akteure wieder ins Spiel bringen, die durch Lévi-Strauss und die Strukturalisten, zumal Althusser, da- durch eskamotiert worden waren, daß man sie zu Epiphänomenen der Struktur erklärt hatte.“^1 Bourdieu gelangte zu der Erkenntnis, dass Handeln nicht bloß Vollzug einer Regel ist. Auf der Basis seiner Dispositionen kann ein Akteur „Spielzüge“ durchziehen, die nicht vorhergesagt werden können. Es galt, das Paradox zu beschreiben, dass ein Verhalten auf Ziele gerichtet sein kann, ohne bewusst durch sie geleitet zu sein. Der Rekurs auf das Bewusstsein des Akteurs kann hier nicht weiterhelfen, das Prinzip der Regel ebenso wenig. In seinen frühen Arbeiten griff Bourdieu auf Max Weber zurück, der auch die Beziehung zwischen den objektiven Chancen und den subjekti- ven Erwartungen thematisierte. Er bezog sich zunächst auf den Weberschen Begriff des Ethos, um die Verinnerlichung objektiver Beziehungen zu bezeichnen.

1. Die Entstehung des Habitus-Begriffs: kollektive Denkformen einer Epoche Dann aber wird der Begriff des Habitus für ihn zu einer zentralen Kategorie. Zu- nächst verwendete Bourdieu den Begriff des Habitus im Rückgriff auf Marcel Mauss, um bestimmte Körperhaltungen zu beschreiben.^2 Der Körper ist für ihn nicht bloß eine Sache, ein „An-sich“ wie bei Sartre, die durch das Bewusstsein beherrscht wer- den muss, sondern eine Ausdrucksweise, die auf kollektive Gewohnheiten verweist, die von einer Gesellschaft zur anderen variieren. Bourdieu stellte das fest, als er die Gangart der Bauern im Béarn beobachtete. Nach Mauss entstehen die Körperhal- 1 Pierre Bourdieu: Rede und Antwort. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992. (= edition suhrkamp. 1547.) S. 28. 2 Siehe dazu Gisèle Sapiro: Une liberté contrainte. La formation de la théorie de l’habitus. In: Pierre Bourdieu sociologue. Unter der Leitung von Louis Pinto, Gisèle Sapiro und Pat-èle Sapiro und Pat- rick Champagne. In Zusammenarbeit mit Marie-Christine Rivière. [Paris:] Fayard 2004. (= Historie de la pensée.) S. 49–78.

LiTheS Nr. 3 (Juli 2010) http://lithes.uni-graz.at/lithes/10_03.html tungen nicht durch Nachahmung, sondern werden anerzogen. Der „wilde“ Körper wird „kulturiert“, zeitlich strukturiert durch die pädagogische Arbeit, die den Auf- schub der unmittelbaren Triebbefriedigung verlangt. Die pädagogische Autorität prägt „jene zeitlichen Strukturen ein, die den Habitus in die Logik des Aufschubs und des Umwegs, folglich des Kalküls, einführen“.^3 Indem er die „Kultivierung“ des Körpers unterstreicht, hebt sich Bourdieu von einer behavioristischen Sichtweise ab, die die Verhaltensweisen nur auf physiologische Reflexe reduziert. „Der Körper denkt immer.“^4 Bezog Bourdieu den Begriff des Habitus zuerst im Gefolge von Mauss auf Kör- pertechniken, so weitete er dieses Konzept später auch auf intellektuelle Wahrneh- mungsweisen (in ihrer kollektiven Form) aus, vor allem nach der Lektüre von Erwin Panofskys Buch Gothic Architecture and Scholasticism , das Bourdieu 1967 in sei- ner Reihe „Le sens commun“ herausgab.^5 Im Unterschied zu einer Konzeption, die den Menschen als passives Wesen versteht, das die Eindrücke der Welt aufnimmt, stand Bourdieu der neukantianischen Tradition nahe, die den aktiven Charakter der Erkenntniskategorien betont, ihre strukturierende Funktion als symbolische Form einer historischen Epoche, ein Gedanke, der auch bei Panofskys Analyse der Perspektive als einer historischen Form zugrunde liegt. Für Bourdieu sind aber, ähnlich wie bei Durkheim und Mauss, die strukturierenden Erkenntniskategori- en nicht universell, sondern spezifisch für bestimmte soziale Gruppen in einer be- stimmten historischen Situation. Er übernahm den Habitusbegriff von Panofsky, um ihn gleichzeitig zu reinterpretieren. Mit Panofsky hatte der alte Habitusbegriff, der schon bei Aristoteles und dann in der Rhetorik Ciceros eine bedeutende Rolle gespielt hatte, wieder einen neuen theoretischen Status erlangt. Panofsky hat in dem genannten Werk über gotische Architektur und Scholastik, das 1951 auf Englisch erschien, die kunstgeschichtliche These aufgestellt, dass gewisse Stilelemente, etwa der gotischen Architektur, sich aus mental habits erklären lassen, die zeitgleich auch in anderen Disziplinen aufzufinden sind und durch Schulbildung verbreitet werden. Dieser Habitusbegriff reaktiviert die geistige Dimension des Sinnpotenzials. Dann geht es um die kollektive Dimension, um die mental habits einer Epoche, und nicht um den spezifischen Habitus etwa eines Redners. Und schließlich handelt es sich auch um ein totalisierendes Konzept, das eine Reihe von Kulturphänomenen ur- sächlich erklären soll. Es ist ganz offensichtlich, dass es sich bei den mental habits um erworbene Dispositionen handelt, die gleichzeitig historisch verortet sind. 3 Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Aus dem Französischen von Cordula Pialoux und Bernd Schwibs. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978. (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft. 291.) S. 199. 4 Ebenda, S. 199. 5 Erwin Panofsky: Architecture gothique et pensée scolastique. Traduction et postface de Pierre Bourdieu. Paris: Editions de Minuit 1967. (= Le sens commun.)

LiTheS Nr. 3 (Juli 2010) http://lithes.uni-graz.at/lithes/10_03.html Wenn hier das Habituskonzept zuerst an der künstlerischen Produktion erprobt wurde, die der Common Sense und die Produzenten selbst dem schöpferischen Ge- nie, dem genialen Individuum, und keineswegs kollektiven Denkgewohnheiten zu- weisen, dann wurde in dieser Testreihe gleich die extremste Position auf der Skala ausgewählt. Lässt sich beim künstlerischen Schaffen der Beweis der sozialen Be- dingtheit erbringen, so ist es umso leichter, die These auch für andere Formen des sozialen Handelns vorzulegen, die weniger exklusiv dem reinen individuellen Willen zugeschrieben werden. Da aber diese Bedingtheit dem Bewusstsein des Künstlers und meist auch dem Bewusstsein all derer entgeht, die derselben Kultur verhaftet sind, ist der Beweis der Bedingtheit in einem positivistischen Sinn nicht leicht zu erbringen. Das Gestaltungsprinzip, das das Schaffen im Bereich der Philosophie und der Kunst erklärt, geht indes auf eine Institution zurück, die diesen Habitus formte, auf die Schule als verhaltensnormierende Instanz.^8 Panofsky gibt sich nicht mit vagen mys- tifizierenden Erklärungen wie „Zeitgeist“ oder „einheitliche Weltanschauung“ zu- frieden, sondern identifiziert konkret eine Institution, die einheitliche Denk- und Handlungsweisen produziert. „In einer Gesellschaft, in der eine Schule das Monopol der Vermittlung von Bildung innehat, finden die geheimen Verwandtschaften, das einigende Band der menschlichen Werte (und zugleich der Lebensführung und des Denkens) ihren prinzipiellen Nexus in der Institution der Schule, fällt dieser doch die Funktion zu, bewußt (oder zum Teil auch unbewußt) Unbewußtes zu übermit- teln oder, genauer gesagt, Individuen hervorzubringen, die mit diesem System der unbewußten (oder tief vergrabenen) Schemata ausgerüstet sind, in dem ihre Bildung bzw. ihr Habitus wurzelt. Kurz, die ausdrückliche Funktion der Schule besteht darin, das kollektive Erbe in ein sowohl individuell als auch kollektiv Unbewußtes zu verwandeln.“^9 Damit wird eine sehr alte Bedeutungsschicht des Habitusbegriffes re-aktiviert, die ihn als dauernde Beschaffenheit einer Person definiert, die nicht ursprünglich, son- dern erworben ist und so zu einer zweiten Natur wird. Die erworbenen Dispositi- onen werden zu einer zweiten Natur, weil der Einzelne sich dieser Inkorporation nicht mehr bewusst ist. Die zentrale Rolle der Schule ist nun gerade für die Scholastik – nomen est omen – evident, deren Gedankengebäude sich am Prinzip der schulischen Vermittlung, ei- nes rein pädagogischen Imperativs orientierte, und zwar nicht bloß am Kommentar kanonischer Texte wie in den traditionellen Klosterschulen, sondern der disputatio und der Dialektik im Rahmen rivalisierender Denkschulen der Pariser Universität. 8 Vgl. ebenda, S. 138. 9 Ebenda, S. 139.

Joseph Jurt: Die Habitus-Theorie von Pierre Bourdieu Dieser historische Spezialfall des durch die Institution Schule im Zeitalter der Scho- lastik geformten Habitus ist indes nach Bourdieu auf andere Gesellschaften über- tragbar, die die Institution Schule nicht kennen, in denen nach der Terminologie von Durkheim und Mauss den schon mehrmals erwähnten „primitiven Formen der Klassifikation“ dieselbe Funktion zukommt.^10

2. Die generative Dimension Wenn der Bildungsbestand bei Panofsky als Habitus bezeichnet werde, dann be- deute dies nicht, dass es sich um ein allgemeines Repertoire von festen Antworten handle, sondern um eine Disposition, die eine Unzahl einzelner Schemata hervorzu- bringen vermöge. „In der Terminologie der generativen Grammatik Noam Chom- skys ließe sich der Habitus als ein System verinnerlichter Muster definieren“, schreibt Bourdieu, „die es erlauben, alle typischen Gedanken, Wahrnehmungen und Hand- lungen einer Kultur zu erzeugen – und nur diese.“^11 Im selben Text spricht Bourdieu vom Habitus als einer „generativen Grammatik der Handlungsmuster“. Der Habi- tusbegriff wird so von Bourdieu über Chomskys generative Idee reinterpretiert, um dergestalt die aktive, schöpferische Seite zu unterstreichen. Bourdieu betont in den späteren Gesprächen sehr stark den generativen, ja kreativen Aspekt seines Habitus- begriffs; viele Kritiker hätten sich indes eine mechanistische Vorstellung von einem „gegen den Mechanismus konstruierten Begriff“^12 gemacht. In den ersten Definitionen des Habitusbegriffs, etwa im Entwurf einer Theorie des Handelns , ist aber eine gewisse Nähe zu einer deterministischen Sichtweise nicht abzustreiten. Das erklärt sich wohl auch aus der damaligen Dominanz des struktu- ralistischen Modells. Bourdieu konnte sich der Einsicht nicht verstellen, dass sich zahllose Handlungsvollzüge ähneln (vor allem innerhalb einer Gruppe) und dass sie trotzdem nicht als bloßer Vollzug eines Befehls oder Anwendung einer Regel ver- standen werden können. Der Habitusbegriff sollte aus dieser Aporie herausführen. Die leibhaftigen Akteure wollte Bourdieu eben durch die Einführung des Habi- tusbegriffs wieder ins Spiel bringen, den er im Entwurf einer Theorie des Handelns folgendermaßen bestimmte: „Die für einen spezifischen Typus von Umgebung konstitutiven Strukturen (etwa die eine Klasse charakterisierenden materiellen Existenzbedingungen), die empirisch unter der Form von mit einer sozial strukturierten Umgebung 10 Eine analoge historische Studie legte Olivier Christin vor: Der Habitus und die Sprache des Kunstwerkes. In: Nach Bourdieu. Visualität, Kunst, Politik. Herausgegeben von Bea- trice von Bismarck, Therese Kaufmann und Ulf Wuggenig. Wien: Turia und Kant 2008, S. 277–288. 11 Bourdieu, Symbolische Formen, S. 143. 12 Pierre Bourdieu und Loïc J. D. Wacquant: Reflexive Anthropologie. Aus dem Französi- schen von Hella Beister. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996. (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft. 1793.) S. 155.

Joseph Jurt: Die Habitus-Theorie von Pierre Bourdieu

3. Der Habitus als Ergebnis der Sozialisation Eine Art primärer Habitus wird im Laufe der Sozialisation in der Familie ausgebil- det. Ein wichtiges Instrument der pädagogischen Arbeit ist die Anerkennung durch den anderen, wodurch das Kind schon früh das Soziale verinnerlicht. Dabei ist die Position, die die Familie im sozialen Raum einnimmt, entscheidend. Deren Dispo- sitionen werden übernommen und im Denken, Reden und Handeln reproduziert. Das Äußere wird verinnerlicht. Wir verinnerlichen Denk- und Handlungsweisen, die mit dem sozialen Status der Eltern in Zusammenhang stehen. Spätere Entschei- dungen werden nicht auf der Basis einer rationalen Berechnung der Erfolgschancen getroffen, wie es die Theorien des Homo oeconomicus oder die Spieltheorie suggerie- ren. Der Habitus weckt Hoffnungen, die den objektiven Bedingungen entsprechen, die als Handlungs- und Denkschemata verinnerlicht werden. Diese Verinnerlichung vollzieht sich über ein ganzes Corpus halb formalisierter Weisheiten wie sprichwört- liche Redewendungen, Gemeinplätze und ethische Vorschriften („Das ist nichts für uns“) sowie unbewusster Prinzipien, die über eine von Regelmäßigkeiten bestimmte Lehrzeit vermittelt werden, in der zwischen „vernünftigen“ und „unvernünftigen“ („Verrücktheiten“) Verhaltensweisen unterschieden wird. Ein sekundärer Habitus wird durch die Sozialisation im Schulwesen ausgebildet, wo der primäre Habitus verstärkt oder auch modifiziert werden kann. Wenn im Habitus immer auch die Erfahrungen der Vergangenheit aufgehoben sind, so ist dieser doch nicht starr, sondern anpassungsfähig, selbst wenn die frühen Spuren stets prägend wirken.^17 Dass Bourdieu selbst, der aus einer einfachen Postbeamten- familie bäuerlichen Ursprungs stammte, mit der Professur am Collège de France die höchste akademische Stufe erklomm, widerspricht nicht seiner Habitustheorie, die nun gerade nicht eine mechanische Determination durch das Milieu annimmt, sondern eine flexible Wirkung der frühen Prägung. Bourdieu stellte – wegen seiner Herkunft aus „bescheidenen“ sozialen Verhältnissen, allerdings verknüpft mit einer ausgezeichneten Ausbildung – bei sich selbst einen „gespaltenen“ Habitus fest, der ihn die Berufung ans Collège de France, die gleichzeitig mit der Nachricht vom Tod seines Vaters eintraf, als eine „Mischung von Anmaßung und Verrat“ wahrnehmen ließ.^18 gegeben von Jürgen Link, Thomas Loer und Hartmut Neuendorff. Heidelberg: Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren 2003. (= Diskursivitäten: Literatur, Kultur, Medien. 3.) S. 121–133. 17 Siehe dazu auch Ruth Sonderegger: Praktische Theorien? In: Nach Bourdieu. Visualität, Kunst, Politik. Herausgegeben von Beatrice von Bismarck, Therese Kaufmann und Ulf Wuggenig. Wien: Turia und Kant 2008, S. 198–200. 18 Pierre Bourdieu: Ein soziologischer Selbstversuch. Aus dem Französischen von Stephen Egger. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002. (= edition suhrkamp. 2311.) S. 123.

LiTheS Nr. 3 (Juli 2010) http://lithes.uni-graz.at/lithes/10_03.html

4. Der Habitus als Generator von Lebensstilen Der Habitus ist freilich nicht ausschließlich ein Klassenhabitus; eine solche These würde ja auch dem Anliegen widersprechen, die Akteure wieder ins Spiel zu brin- gen, die von den Strukturalisten als bloße Epiphänomene der Strukturen betrachtet wurden. Als Produkt der Geschichte produziert der Habitus individuelle und kol- lektive Praktiken. Der individuelle Habitus, der sich der Wahrnehmung unmittel- bar darbietet und in der Form der Eigennamen gesellschaftlich identifiziert wird, ist für Bourdieu eine Variante des Klassen- und Gruppenhabitus: „Jedes System individueller Dispositionen ist eine strukturale Variante der an- deren Systeme, in der die Einzigartigkeit der Stellung innerhalb der Klasse und des Lebenslaufs zum Ausdruck kommt. Der ‚eigene‘ Stil, d.h. jenes besondere Markenzeichen, das alle Hervorbringungen desselben Habitus tragen, seien es nun Praktiken oder Werke, ist im Vergleich zum Stil einer Epoche oder Klasse immer nur eine Abwandlung, weswegen der Habitus nicht nur durch Einhal- tung des Stils […] auf den gemeinsamen Stil verweist, sondern auch durch den Unterschied, aus dem die ‚Machart‘ besteht.“^19 Bourdieu hat Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre die Ausprägungen des Habitus in der Form unterschiedlicher Lebensstile der sozialen Gruppen in Frank- reich namentlich in seinem Buch Die feinen Unterschiede analysiert. Der Habitus erscheint hier als Prinzip der Generierung von unterschiedlichen und der Unter- scheidung dienenden Praktiken: „Was der Arbeiter ißt und vor allem, wie er es ißt, welchen Sport er treibt, welche politischen Meinungen er hat und wie er sie zum Ausdruck bringt, un- terscheidet sich systematisch von den entsprechenden Konsum- und Verhal- tensgewohnheiten der Unternehmer in der Industrie.“^20 Der Habitus bringt aber nicht bloß unterschiedliche Handlungs- und Denkschemata hervor, sondern auch unterschiedliche Klassifikationsschemata der Handlungen der anderen. In den Feinen Unterschieden ging es Bourdieu nicht darum, aufzuzeigen, der Antrieb allen menschlichen Handelns sei die Suche nach dem Unterschied: „[…] ein Unterschied, ein Unterscheidungsmerkmal, weiße Hautfarbe oder schwarze Hautfarbe, Taille oder Bauch, Volvo oder 2CV, Rotwein oder Cham- pagner, Pernod oder Whisky, Golf oder Fußball, Klavier oder Akkordeon, Bridge oder Skat […], wird nur dann zum sichtbaren, wahrnehmbaren, nicht indifferenten, sozial relevanten Unterschied, wenn er von jemandem wahrge- nommen wird, der in der Lage ist, einen Unterschied zu machen – weil er selber in den betreffenden Raum gehört und daher nicht indifferent ist […].“^21 19 Bourdieu, Sozialer Sinn, S. 113. 20 Pierre Bourdieu: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Aus dem Französischen von Hella Beister. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998. (= edition suhrkamp. 1985.) S. 21. 21 Ebenda, S. 2.

LiTheS Nr. 3 (Juli 2010) http://lithes.uni-graz.at/lithes/10_03.html den stehen, die ihren Habitus ursprünglich geformt haben, also Erfahrungen zu machen, die dann wieder ihre Dispositionen verstärken.“^23

6. Habitus und Feld Man darf allerdings nicht vergessen, dass Bourdieu den Habitus-Begriff zuerst aus- gebildet hat und dass der Feld-Begriff erst später entwickelt wurde.^24 Über den Be- griff des Feldes beschrieb Bourdieu dann den historischen Prozess der Ausdifferen- zierung und der wachsenden Autonomisierung der einzelnen Felder. Dabei betont er gleichzeitig die Korrelation zwischen Habitus und Feld. Die Historisierung des Habitus-Begriffs kann so konkreter gefasst werden. Mit der wachsenden Autonomi- sierung der einzelnen Felder ist auch der Spielraum der Akteure größer.^25 23 Bourdieu / Wacquant, Reflexive Anthropologie, S. 167–168. 24 So sagte Bourdieu in einem Gespräch im Jahre 1986: „Ich glaube, daß die umfassenden theoretischen Intentionen, die sich in Begriffen wie Habitus, Strategie usw. gleichsam ver- dichteten, in zwar kaum entfalteter, wenig expliziter Form, aber doch von Anfang an in meinen Arbeiten präsent waren (dagegen ist das Konzept des ‚Feldes‘ neueren Datums; es entwickelte sich aus der Konvergenz von Forschungen zur Soziologie der Kunst, die ich 1970 in einem Seminar an der Ecole normale in Angriff nahm, und dem Kommentar zum Abschnitt über die Religionssoziologie in Wirtschaft und Gesellschaft.)“ Auf die Frage über seine aktuellen Forschungen antwortete er dann im gleichen Gespräch: „Im Augenblick arbeite ich an einer ‚Theorie des Feldes‘. Ich nehme dabei, auf höherer Ebene, die bereits vorliegenden Untersuchungen zum literarischen, philosophischen, politischen Feld wieder auf und ergänze sie durch neue Analysen zum juristischen und zum Machtfeld.“ [Pierre Bourdieu:] Der Kampf um die symbolische Ordnung. Pierre Bourdieu im Gespräch mit Axel Honneth, Hermann Kocyba und Bernd Schwibs. In: Ästhetik und Kommunikation 16 (1986), H. 61/62, S. 156, 162. 25 Andreas Dörner und Ludgera Vogt vertreten die These, Bourdieus Konzepte von Habi- tus und Kapital widersprächen „streng genommen“ seiner Feldtheorie: „Denkt man dar- an, dass der Habitus in klassenspezifischer Sozialisation erworben sein und sich gegenüber wechselnden Kontexten stabil verhalten soll, so merkt man, dass hier die deterministischen Tendenzen dieses Begriffes überwiegen. Nähme man Bourdieus plausible Überlegungen zu einem pluralen Nebeneinander und einer Eigendynamik der Felder ernst, so müsste man die Vorstellung von einem klassenspezifischen und somit feldübergreifenden Habi- tus aufgeben zugunsten einer Vielfalt von feldspezifischen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmustern.“ Andreas Dörner und Ludgera Vogt: Medien zwischen Struktur und Handlung. Zum Strukturdeterminismus in Bourdieus Kulturtheorie und möglichen Alter- nativen. In: Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kul- turbetrieb der Gegenwart. Herausgegeben von Markus Joch, York-Gothart Mix, Norbert Christian Wolf gemeinsam mit Nina Birkner Tübingen: Niemeyer 2009. (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. 118.) S. 259. Die ‚Argumentation‘ von Dörner und Vogt wird von einer petitio principii bestimmt. Zuerst wird die These eines unwandelbaren, klassenspezifischen Habitus postuliert, von der aus man dann leicht einen Widerspruch zur relativen Offenheit des Feldes konstruieren kann. Bourdieu widersetzt sich ja nun gerade ei- nem substantialistischen Klassenbegriff und konstruiert theoretische ‚Klassen‘ auf der Basis von Kapitalvolumen und -Struktur. Verkannt wird von Dörner und Vogt die für Bourdieu zentrale Kategorie der ‚Strategie‘. Je nach Struktur des Feldes kann ich meine Dispositionen und Ressourcen so oder anders einbringen. Bourdieu verneint so, im Unterschied zu tra- ditionellen Literatursoziologen, eine Determination der literarischen Position der Akteure durch ihr klassenmäßiges Ursprungsmilieu.

Joseph Jurt: Die Habitus-Theorie von Pierre Bourdieu Ein enges (unbewusstes) Verhältnis besteht nach Bourdieu zwischen dem Habitus und dem Feld. Der Habitus als Instrument der praktischen Erkenntnis ermöglicht es, sich unmittelbar und gleichsam unbewusst dem im Wandel begriffenen Kon- text anzupassen. Die spezifische Beziehung zwischen Habitus und Feld – Bourdieu spricht von einer „Abgestimmtheit“ – ist eine zentrale Konfiguration in der sozialen Welt; Handlungen werden auf diese Weise nicht monokausal auf bestimmte „Ereig- nisse“ zurückgeführt. „Ereignisse“ können Anstöße sein, weil ein bestimmter Habi- tus ihnen eine Wirkkraft verleiht; Dispositionen können aber auch virtuell bleiben, wenn sie nicht mit einer bestimmten Situation konfrontiert werden. Handeln ist für Bourdieu weder die Konfrontation eines „Subjekts“ mit der Welt noch die mecha- nische Determinierung eines Aktes durch ein „Milieu“. Handeln ist vielmehr die Begegnung von zwei Realisierungen der Geschichte: der in den Dingen objektivier- ten Geschichte in der Form der Strukturen oder Mechanismen eines Feldes und der im Körper inkarnierten Geschichte in der Form des Habitus. Die Adaptation der Dispositionen an die Forderungen der sozialen Welt kann vollkommen gelingen (etwa, wenn ein Beamter sich völlig mit seinem Amt identifiziert); die Anpassung kann aber auch misslingen: Bourdieu erwähnt das Beispiel der algerischen Arbei- ter, bei denen die Dispositionen einer präkapitalistischen Welt dem Kontext der westlich-kolonisierten Welt nicht entsprachen. „Die Beziehung zwischen Habitus und Feld ist eine Beziehung der Bedingtheit: Das Feld strukturiert den Habitus, der das Produkt der Verinnerlichung der Inkorporation der immanenten Notwendig- keit dieses Feldes ist.“^26 Dasselbe Verhalten hat in den einzelnen Feldern einen un- terschiedlichen Stellenwert. Ostentatives Konsumverhalten kann im ökonomischen Feld valorisierend, im intellektuellen Feld diskriminierend sein. Der Habitus bringt so je nach Feld unterschiedliche Klassifizierungsschemata hervor. „Mit ihrer Hilfe werden Unterschiede zwischen gut und schlecht, gut und böse, distinguiert und vulgär usw. gemacht, aber eben nicht die gleichen Unterschie- de. So kann zum Beispiel das gleiche Verhalten oder das gleiche Gut dem einen distinguiert erscheinen, dem anderen aufgesetzt oder angeberisch, einem drit- ten vulgär.“^27 Der Habitus ist die Verinnerlichung objektiver Strukturen des einzelnen Feldes, der damit zu einer zweiten Natur wird. 26 Bourdieu / Wacquant, Reflexive Anthropologie, S. 102. 27 Bourdieu, Praktische Vernunft, S. 21.

Joseph Jurt: Die Habitus-Theorie von Pierre Bourdieu Panofsky, Erwin: Architecture gothique et pensée scolastique. Traduction et post- face de Pierre Bourdieu. Paris: Editions de Minuit 1967. (= Le sens commun.) Sapiro, Gisèle: Une liberté contrainte. La formation de la théorie de l’ habitus. In: Pierre Bourdieu sociologue. Unter der Leitung von Louis Pinto, Gisèle Sapiro und Patrick Champagne. In Zusammenarbeit mit Marie-Christine Rivière. [Paris:] Fayard 2004. (= Historie de la pensée.) S. 49–78. Sonderegger, Ruth: Praktische Theorien? In: Nach Bourdieu. Visualität, Kunst, Politik_._ Herausgegeben von Beatrice von Bismarck, Therese Kaufmann und Ulf Wuggenig. Wien: Turia und Kant 2008, S. 197–210.