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Die Welle ein unglaublich gutes Buch kann man nur empfehlen und lesen üben .
Art: Übungen
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Morton Rhue
Laurie Saunders saß im Redaktionsbüro der Schülerzeitung der Gordon High School
und kaute an ihrem Kugelschreiber. Sie war ein hübsches Mädchen mit hellbraunem
Haar und einem fast immerwährenden Lächeln, das nur schwand, wenn sie
au fgeregt war oder an Kugelschreibern kaute. Das hatte sie in letzter Zeit ziemlich
häu fig getan. In ihrem Vorrat gab es keinen einzigen Schreiber mehr, der nicht am
obe ren Ende völlig zerbissen war. Immerhin war das allemal noch besser als
Rauchen.
Lau rie sah sich in dem kleinen Büro um, das mit Schreibtischen, Schreibmaschinen
und Zeichenplatten vollgestopft war. Eigentlich sollte in diesem Augenblick an jeder
Schreibmaschine jemand sitzen und Beiträge für die Schülerzeitung »Ente«
au sbrüten. Auch Zeichner und Gestalter sollten an den Lichttischen hocken und die
nä chste Ausgabe vorbereiten. Tatsächlich war jedoch außer Laurie niemand im
Raum. Das Problem bestand einfach darin, dass draußen ein herrlicher Tag war.
Lau rie spürte, wie das Plastikröhr chen ihres Kugelschreibers zerbrach. Ihre Mutter
ha tte ihr prophezeit, eines Tages würde sie so heftig an einem Schreiber kauen, dass
e r zersplitterte. Und dann würde ein langer Plastiksplitter ihr in den Hals rutschen,
und sie würde daran ersticken. Nur Mutter konnte auf so einen Gedanken kommen,
da chte Laurie seufzend. Sie schaute auf die Uhr an der Wand. Von der laufenden
Schulstunde blieben nur noch ein paar Minuten. Es gab keine Vorschrift, nach der
i rgend jemand während der Freistunden in der Redaktion a rbeiten musste, aber alle
wussten schließlich, dass die nächste Ausgabe der »Ente« in der kommenden
W oche fällig war. Konnten die anderen denn nicht einmal auf Eis, Zigaretten und
Sonnenbad verzichten, um wenigstens einmal eine Schülerzeitung pünktlich
he rauszubringen? Laurie schob den Kugelschreiber in den Rücken ihres Ringbuchs
und sammelte ihre Hefte für die nächste Stunde zusammen. Es war hoffnungslos!
Seit drei Jahren gehörte sie nun zur Redaktion, und bisher war noch jede Nummer
de r »Ente« verspäte t erschienen. Dass sie jetzt Chefredakteurin geworden war,
ände rte daran ganz und gar nichts. Die Zeitung wurde eben fertig, wenn auch der
l etzte es geschafft hatte, sich um seine Arbeit zu kümmern.
Lau rie schloss die Tür des Redaktionsbüros hinter sich und trat auf den jetzt
menschenleeren Flur. Es hatte noch nicht geläutet. Nur am anderen Ende des
G anges waren ein paar Schüler zu sehen. Laurie ging an einigen Türen vorüber,
b lieb vor einem Klassenraum stehen und schaute durch das Fenster hinein. Drinnen
gab sich ihre beste Freundin, Amy Smith, ein kleines Mädchen mit dichten, blonden
Lo cken, die größte Mühe, die letzten Minuten von Mr. Gabondis Französischstunde
zu überstehen. Im vergangenen Jahr hatte Laurie bei Mr. Gabondi Französisch
gehab t, und das war so ziemlich das Langweiligste gewesen, was sie bisher in der
Schule erlebt hatte. Mr. Gabondi war ein kleiner, stämmiger, dunkelhaariger Mann,
de r selbst an den kältesten Wintertagen immer zu schwitzen schien. Im Unterricht
sprach er leise und so monoton, dass es selbst eifrige Schüler einschläfern konnte.
O bwohl der Stoff, den er unterrichtete, nicht besonders schwer verständlich war,
konnte kaum jemand die allernötigste Aufmerksamkeit aufbringen.
Als sie jetzt sah, wie ihre Freundin sich abmühte, dem Unt erricht zu folgen, fand
Lau rie, dass Amy eine kleine Aufheiterung verdient hätte. Deshalb stellte sie sich so
an s Fenster, dass zwar Amy, nicht aber Mr. Gabondi sie sehen konnte, schielte wild
und zog eine entsetzliche Grimasse. Amy reagierte darauf, inde
m sie die Hand vor
den Mund legte, um das Lachen zu unterdrücken. Laurie verzog abermals das
G esicht. Amy wollte nicht hinschauen, musste dann aber doch wieder den Kopf
u mdrehen, um zu sehen, was Laurie jetzt zu bieten hatte. Laurie führte ihr berühmtes
F ischgesicht vor: Sie schob die Ohren nach vorn, schielte kreuzweise und öffnete
und schloss zugleich den Mund wie ein Karpfen. Amy gab sich so große Mühe, nicht
zu lachen, dass ihr die Tränen über die Wangen liefen.
Es war Laurie klar, dass sie das Grimassen schneiden einstellen musste. Es machte
Spaß, Amy zu beobachten. Man konnte sie leicht zum Lachen bringen. Wenn Laurie
jetzt noch etwas vorführte, fiel Amy wahrscheinlich vom Stuhl und wälzte sich
z wischen den Tischen auf dem Boden. Doch Laurie konnte nich
t widerstehen. Sie
kehrte der Tür den Rücken zu, um die Spannung zu erhöhen, verzerrte Mund und
Augen und fuhr wieder herum.
Unter der Tür stand ein sehr zorniger Mr. Gabondi. Hinter ihm wurden Amy und ihre
gan ze Klasse fast hysterisch. Laurie sperrte den Mund auf. Doch ehe Gabondi noch
schelten konnte, läutete die Glocke, und die Schüler drängten an ihm vorbei. Amy
h ielt sich die vom Lachen schmerzenden Seiten. Während der Lehrer sie düster
an starrte, gingen die beiden Mädchen Arm in Arm zu ihrer nächsten Klasse; sie
waren viel zu atemlos, um noch zu lachen.
I n dem Klassenraum, in dem er Geschichte unterrichtete, beugte sich Ben ROSS
übe r einen Projektor und bemühte sich, einen Film in das Gewirr von Zahnrädern und
L insen einzufädeln. Es war schon sein viert er Versuch, und er hatte es immer noch
n icht geschafft. Verzweifelt fuhr er sich mit den gespreizten Fingern durch das
b raunwellige Haar. Sein Leben lang hatten ihn Geräte und Maschinen nur verwirrt:
F ilmprojektoren, Autos, sogar Selbstbedienungstankstellen machten ihn hilflos.
Er hatte sich selbst nie erklären können, warum er in dieser Hinsicht so ungeschickt
war, und wenn irgend etwas Handwerkliches oder Mechanisches anfiel, überließ er
e s Christy, seiner Frau. Sie unterrichtete an der Gordon High School Chorgesang
und Musik, und zu Hause war sie für alles zuständig, was Handfertigkeit erforderte.
Scherzhaft behauptete sie manchmal, man könne Ben nicht einmal zutrauen, eine
G lühbirne richtig einzuschrauben, was er jedoch als stark übertrieben zurückwies. Er
ha tte in seinem Leben schon eine ganze Reihe von Glühbirnen ausgewechselt, und
soweit er sich erinnern konnte, waren nur zwei dabei zerbrochen. Während seiner
b isherigen Tätigkeit an der Gordon High School - Ben und Christy unterrichteten dort
seit zwei Jahren - war es ihm gelungen, seine handwerkliche Ungeschicklichkeit nicht
de monstrieren zu müssen. Auf jeden Fall war sie hinter seinem Ruf zurückgetreten,
e in ganz ausnehmend tüchtiger junger Lehrer zu sein. Bens Schüler sagten, er sei so
sehr bei der Sache, sei selbst an seinen Themen so beteiligt und interessiert, dass
e s ganz unmöglich sei, nicht auch davon gefesselt zu werden. Er sei einfach
»an steckend«, sagten sie und meinten damit, dass er sie wirklich anzusprechen
verstand. Die anderen Lehrer im Kollegium waren über Ben ROSS eher geteilter
Meinung. Manche waren von seiner Energie, seinem Einsatz und seiner Kreativität
bee indruckt. Sie sagten, er vermittle seinen Schülern ganz neue Blickwinkel, zeige
i hnen nach Möglichkeit immer die praktischen, fü r die Gegenwart bedeutenden
Aspekte der Geschichte. Behandelte man politische Systeme, teilte er die Klasse in
po litische Parteien ein. Wurde ein berühmtes Gerichtsverfahren besprochen, ließ er
Ankläger, Verteidiger, Zeugen und Richter durch Schüler darste llen. Andere Lehrer
waren skeptischer. Einige behaupteten, er sei einfach jung, naiv und übereifrig; nach
»Das genügt, Brad!« sagte Ben streng. Inzwischen waren genug Schüler
e ingetroffen, so dass ROSS beginnen konnte, die Arbeiten zurückzugeben. »Hört
he r!« sagte er laut. »Hier sind eure Arbei ten von vergangener Woche. Allgemein
k ann man sagen, dass ihr nicht schlecht gearbeitet habt.« Er ging zwischen den
T ischen hin und her und gab jedem Schüler seine Arbeit zurück. »Aber ich muss
eu ch noch einmal ausdrücklich warnen. Manche dieser Arbeiten sehen wirklich zu
uno rdentlich aus.« Er hob ein paar Blätter in die Höhe. »Hier, zum Beispiel. Ist es
denn wirklich nötig, die Ränder einzurollen?«
Die Klasse lachte, und einer fragte: »Wem gehören die denn?«
» Das ist nicht deine Sache.« Ben strich die Blätt er glatt und teilte weiter aus. »Von
jetzt an werde ich die Noten bei den unordentlich abgelieferten Arbeiten
verschlechtern. Wer zu viele Fehler gemacht hat oder zu oft ändern musste, der
f ängt eben ein neues Blatt an und schreibt seinen Text ordentlich ab, ehe er ihn
abg ibt. Habt ihr verstanden?«
Einige Schüler nickten. Andere achteten nicht weiter auf seine Worte. Ben ging nach
vorn und entrollte die Filmleinwand. Das war nun schon das dritte Mal in diesem
Halbjahr, dass er über unordentliche Arbeiten ge sprochen hatte.
Das Thema der Stunde war der Zweite Weltkrieg, und der Film, den Ben ROSS an
jenem Tage vorführte, berichtete von den Grausamkeiten, die Nazis in den
Konzentrationslagern verübt hatten. Im verdunkelten Klassenzimmer starrten die
Schüler auf die Leinwand. Sie sahen Männer und Frauen, die so heruntergekommen
und au sgehungert waren, dass sie nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen
schienen.
Ben hatte diesen Film oder ähnliche Filme schon häufiger gesehen. Doch der Anblick
so rü cksichtsloser, unmenschlicher Grausamkeiten machte ihn noch immer betroffen
und zornig. Während der Film noch lief, sagte er zur Klasse: »Was ihr da seht, hat
sich in Deutschland zwischen 1933 und 1945 abgespielt. Es ist das Werk eines
Mannes namens Adolf Hitler, eines ehemaligen Anstreichers, der sich nach dem
Ersten Weltkrieg der Politik zuwandte. Deutschland war in diesem Krieg besiegt
worden, die neue Führung war noch schwach, Tausende von Menschen waren
he imatlos, hungrig und ohne Arbeit.
Diese Lage bo t Hitler die Möglichkeit, in der Nazipartei schnell aufzusteigen. Er
p flichtete der Lehre bei, die Juden seien die Zerstörer aller Kultur, und die Deutschen
seien Angehörige einer höherstehenden Rasse. Heute wissen wir, dass Hitler ein
Psychopath war. 192 3 wurde er wegen seiner politischen Aktivitäten zu einer
G efängnisstrafe verurteilt, doch im Jahre 1933 übernahm seine Partei die
Regierungsmacht in Deutschland.« Ben schwieg einen Augenblick, damit die Schüler
sich ganz auf den Film konzentrieren konnten. Sie sahen jetzt die Gaskammern und
Menschenleiber, die wie Brennholz aufgestapelt waren. Noch lebende menschliche
Skelette hatten die entsetzliche Aufgabe, die Toten unter den wachsamen Augen der
SS-Leu te aufzuschichten. Ben spürte Übelkeit in sich aufstei gen. Wie war es nur
möglich, dass ein Mensch einen anderen Menschen zu einer solchen Arbeit zwang?
Den Schülern sagte er: »In diesen Todeslagern spielte sich ab, was Hitler die
Endlösung der Judenfrage< nannte. Aber jedermann - nicht nur die Juden - konnt e
i n ein solches Lager geschickt werden, wenn er von den Nazis nicht als tauglich
be funden wurde, der >Herrenrasse< anzugehören. In ganz Osteuropa pferchte man
die Menschen in Lager. Zunächst leisteten sie harte Arbeit, hungerten, wurden
ge foltert, und wenn sie nicht mehr arbeiten konnten, endeten sie in den
G askammern. Ihre Überreste wurden in den Öfen verbrannt.« Ben schwieg einen
ugenblick, ehe er hinzufügte: »Die Lebenserwartung der Gefangenen in den Lagern
be trug zweihundertsiebzig Tage. Viele überleb ten noch nicht einmal eine Woche.«
Auf der Leinwand sah man jetzt die Gebäude, in denen die Öfen standen. Ben
da chte daran, die Schüler darauf aufmerksam zu machen, dass der Rauch, der aus
den Schornsteinen aufstieg, das Verbrennen von Menschenfleisch anze igte. Er tat es
n icht. Es war auch so ein schreckliches Erlebnis, diesen Film anzuschauen. Nur gut,
da ss man noch keine Möglichkeit erfunden hatte, auch Gerüche im Film
wiederzugeben; das Übelste musste der Gestank sein, der Gestank der
n iederträchtigsten Tat in der Geschichte der Menschheit. Der Film endete, und Ben
e rklärte seinen Schülern: »Insgesamt haben die Nazis über zehn Millionen Männer,
rauen und Kinder in ihren Vernichtungslagern umgebracht.«
Ein Schüler, der dicht bei der Tür saß, schaltete das Licht ein. Als der Lehrer sich im
Klassenraum umsah, erkannte er deutlich, dass die meisten Schüler tief betroffen
waren. Ben hatte sie nicht schockieren wollen, doch es war ihm klar gewesen, dass
d ieser Film es tun würde. Die meisten der Schüler waren in de r kleinen
Vorstadtgemeinde aufgewachsen, die sich ruhig und friedlich um die Gordon High
School ausbreitete. Sie entstammten gesunden Mittelstandsfamilien, und trotz der
F ülle von Grausamkeiten, mit denen sie durch die Massenmedien überschüttet
wurden, waren sie überraschend naiv. Selbst jetzt wollten einige Schüler wieder mit
i hren üblichen oberflächlichen Spielereien beginnen. Ihnen war der Film
wahrscheinlich nur wie einer der zahllosen Fernsehfilme vorgekommen, die man
ständig sah. Robert Billings, de r dicht beim Fenster saß, hatte den Kopf auf die
verschränkten Arme gelegt und schlief. Aber ganz vorn saß Amy Smith, und es sah
so aus, als wischte sie sich gerade die Tränen aus den Augen. Auch Laurie
Saunders sah ganz verstört aus.
» Ich weiß, dass dieser Film viele von euch tief erregt hat«, sagte Ben. »Aber ich
habe eu ch diesen Film heute gerade deswegen gezeigt, weil ich euer Gefühl
an sprechen wollte. Ich möchte, dass ihr über das nachdenkt, was ihr gesehen habt
und was ich euch erzählt habe. Hat noch jemand Fragen?« Amy Smith hob sofort die
Hand.
» Ja, Amy?«
» Waren alle Deutschen Nazis?« fragte sie. Ben schüttelte den Kopf. »Nein.
Beispielsweise gehörten weniger als zehn Prozent zur Nazipartei.« »Warum hat dann
keiner versucht, die Nazis an dem zu hinde rn, was sie taten?«
» Das weiß ich nicht genau, Amy. Ich kann nur vermuten, dass sie Angst hatten. Die
Nazis waren vielleicht eine Minderheit, aber sie waren eine gut organisierte,
be waffnete und gefährliche Minderheit. Man darf nicht vergessen, dass die üb rige
Bevölkerung unorganisiert, unbewaffnet und verängstigt war. Alle hatten sie die
I nflationszeit erlebt, die ihr Land förmlich ruiniert hatte. Vielleicht hofften manche, die
Nazis könnten wieder Ordnung in die Gesellschaft bringen. Jedenfalls haben die
meisten Deutschen nach dem Kriege behauptet, sie hätten von den Grausamkeiten
n ichts gewusst.« Ein schwarzhaariger Junge namens Eric hob die Hand. »Das ist
do ch Unsinn!« rief er. »Wie kann man denn Millionen von Menschen abschlachten,
ohne da ss jemand etwas davon weiß?«
» Ja«, stimmte ihm der Junge zu, der vor der Stunde einen Streit mit Robert Billings
ange fangen hatte. »Das kann überhaupt nicht stimmen!«
F ür Ben war es ganz offensichtlich, dass der Film den größten Teil der Klasse
ange sprochen hatte, und das freute ihn. Es war gut, dass sie sich über irgend etwas
streng, »wenn du dich nicht dazu überwinden kannst, im Unterricht mitzuarbeiten,
werde ich dir nicht hel fen können. Wie die Dinge gegenwärtig liegen, wirst du mit
Sicherheit nicht versetzt werden.« Robert sah flüchtig seinen Lehrer an und wandte
dann wieder den Blick ab.
» Hast du mir nichts zu sagen?« fragte Ben. Robert hob die Schultern. »Das ist mir
ega l«, sagte er. »Wie meinst du das? Es ist dir egal?« fragte Ben. Robert ging ein
paa r Schritte auf die Tür zu. Ben sah, dass ihm die Fragen unangenehm waren.
» Robert?« Der Junge blieb stehen, konnte seinen Lehrer aber noch immer nicht
an schauen. »Es nützt ja do ch nichts«, murmelte er.
Ben fragte sich, was er sagen sollte. Roberts Fall war nicht leicht: Er stand ganz im
Schatten eines älteren Bruders, der ein wahrer Musterschüler und der Star der
Schule gewesen war. Jeff Billings war immer der Sprecher der ander en gewesen.
Jetzt studierte er Medizin. Als Schüler hatte er in allen Fächern die besten Noten
gehab t, und im Grunde war er ganz genau der Bursche gewesen, den Ben in seiner
e igenen Schulzeit nicht hätte ausstehen können.
Da Robert einsah, dass er es mit seinem großen Bruder niemals aufnehmen konnte,
ha tte er beschlossen, es gar nicht erst zu versuchen.
» Hör zu«, sagte Ben. »Niemand erwartet von dir, dass du ein zweiter Jeff Billings
sein sollst!« Robert sah Ben flüchtig an und fing dann an, an seinem Daumennage l
zu kauen.
» Wir erwarten von dir nur, dass du dir ein wenig Mühe gibst.«
» Ich muss jetzt gehen«, sagte Robert und schaute zu Boden.
» Sport finde ich gar nicht so wichtig, Robert«, sagte Ben, doch der Junge ging schon
l angsam zur Tür.
David Collins saß auf dem kleinen Platz vor der Cafeteria. Als Laurie kam, hatte er
schon sein halbes Mittagessen hinuntergeschlungen und fing an, sich wieder wie ein
no rmaler Mensch zu fühlen. Er sah zu, wie Laurie ihr Tablett neben das seine stellte
und be merkte zugleich, dass auch Robert Billings auf die Tische im Freien zustrebte.
» Schau mal«, wisperte er, als Laurie sich setzte. Sie sahen zu, wie Robert mit
seinem Tablett aus der Cafeteria trat und nach einem Platz zum Essen Ausschau
h ielt. Wie üblich ha tte er schon mit dem Essen begonnen. Als er jetzt unter der Tür
stehenblieb, ragte ihm ein halber Hot dog aus dem Mund.
Z wei Mädchen aus Ben ROSS' Geschichtskurs saßen an dem Tisch, den Robert
wählte. Als er sich setzte, standen beide auf und trugen ihre T abletts zu einem
ande ren Tisch. Robert tat so, als habe er es nicht bemerkt. David schüttelte den
Kopf. »Der Unberührbare der Gordon High School«, murmelte er.
» Glaubst du, dass mit ihm wirklich etwas nicht in Ordnung ist?« fragte Laurie.
» Ich weiß nicht«, antwortete David. »Soweit ich mich erinnern kann, war er schon
i mmer ziemlich seltsam. Aber ich wäre wahrscheinlich auch seltsam, wenn man mich
so behandeln würde. Man kann es sich kaum vorstellen, dass er und sein Bruder aus
e in und derselben Familie sta mmen.«
» Habe ich dir schon einmal erzählt, dass meine Mutter seine Mutter kennt?« fragte
Lau rie. »Redet seine Mutter manchmal über ihn?« erkundigte sich David.
» Nein. Sie hat nur einmal erwähnt, dass er getestet wurde. Er hat einen ganz
no rmalen Intelligen zquotienten. Dumm oder so etwas ist er nicht.« »Bloß komisch«,
sagte David und wandte sich wieder seinem Essen zu. Aber Laurie stocherte nur auf
i hrem Teller herum. Sie schien nachdenklich zu sein. »Was ist?« fragte David.
» Dieser Film«, antwortete Laurie, »der beschäftigt mich wirklich. Dich nicht?«
avid dachte einen Augenblick nach, ehe er antwortete: »Doch, ja, als etwas
Entsetzliches, das einmal in der Vergangenheit geschehen ist, beschäftigt es mich
schon. Aber das ist lange her, Laurie. Für mich ist das einfach Geschichte. Was
da mals geschehen ist, kann man heute nicht mehr ändern.«
» Aber man darf es auch nicht vergessen«, meinte Laurie. Sie nahm einen Bissen von
i hrem Hamburger, verzog das Gesicht und hörte auf zu essen. »Und man kann sich
au ch nicht sein Leben lang damit herumschlagen«, sagte David und betrachtete den
Hamburger, den Laurie zurückgelegt hatte. »Ißt du den noch?«
Lau rie schüttelte den Kopf. Der Film hatte ihr den Appetit verdorben. »Bediene dich!«
David verschlang nicht nur ihren Hambu rger, sondern auch den Salat, die Pommes
f rites und das Eis. Laurie schaute zwar in seine Richtung, doch sah sie ihn nicht an.
» Das war gut!« sagte David und wischte sich die Lippen mit der Serviette.
» Möchtest du noch etwas?« fragte Laurie. »Also, wenn ich ehrlich sein soll. ..« »He,
i st der Platz besetzt?« fragte eine Stimme hinter ihnen.
» Ich war zuerst hier«, sagte eine andere Stimme. David und Laurie blickten auf und
sahen, dass Amy Smith und Brian Ammon aus entgegengesetzten Richtungen auf
i hren Tisch zustrebten. »Wie meinst du das, du warst zuerst hier?« fragte Brian. »Ich
meine, ich wollte gern zuerst hier sein«, antwortete Amy.
» Wollen zählt nicht«, behauptete Brian. »Übrigens brauche ich den Platz, weil ich
mich mit David über Football unterhalten muss.«
» Und ich muss mit Laurie reden«, erwiderte Amy. »Worüber?« fragte Brian.
» Darüber, dass ich ihr Gesellschaft leisten will, solange ihr über euren langweiligen
F ootball redet.« »Hört auf!« warf Laurie ein. »Es ist genug Platz für beide.«
» Aber diese beiden brauchen Platz für drei«, behauptete Amy und deutete mit einer
Kopfbewegung auf Brian und David.
» Ha, ha, ha«, brummte Brian.
David und Laurie rückten zusammen, Amy und Brian zwängten sich zu ihnen an den
T isch. Mit dem Platz für drei hatte Amy rech t gehabt, denn Brian brachte zwei gefüllte
T abletts mit.
» Sag mal, was willst du denn mit dem ganzen Zeug anfangen?« fragte David und
klopfte Brian auf die Schulter. Für einen Verteidiger war Brian nicht besonders groß.
David überragte ihn um einen ganzen Kopf.
» Ich muss ein bisschen Gewicht zulegen«, brummte Brian und machte sich über sein
Essen her. »Ich brauche jedes einzelne Pfund, wenn es am kommenden Samstag
gegen d iese Brocken aus Clarkstown geht. Die sind groß. Wirklich riesig, meine ich.
Einen Zwei-Meter-Mann sollen sie haben, der über zwei Zentner wiegt.« »Ich
verstehe nicht, warum du dir deswegen Sorgen machst. Wenn einer so ein Riese ist,
kann er doch unmöglich schnell laufen.«
Brian verdrehte die Augen. »Er muss auch nicht laufen, Amy. Er muss nu r einfach
G egner niederwalzen.« »Habt ihr am Samstag überhaupt eine Chance?« fragte
Laune. Sie dachte an den Artikel, den sie für die »Ente« brauchten.
» Ich weiß nicht«, entgegnete David achselzuckend. »Die Mannschaft ist ziemlich
du rcheinander, und wir haben jede Menge Trainingsrückstand. Die halbe Mannschaft
versäumt regelmäßig das Training.« »Ja«, stimmte Brian zu. »Trainer Schiller hat
ged roht, jeden aus der Mannschaft zu werfen, der nicht zum Training kommt, aber
wenn er das täte, dann hätte er nicht mehr genug Spieler.«
Danach schien niemand mehr etwas zum Thema Football zu sagen zu haben, und
Brian biss in seinen zweiten Hamburger.
»Warum heiratet ihr nicht einfach?« Laurie verzog das Gesicht. »Ach, Amy! Ich
g laube schon, dass ich David wirklich liebe, aber wer will denn jetzt schon heiraten?«
Amy lächelte. »Ich weiß nicht. Wenn David mich fragen würde, dann könnte ich
sc hon darüber nachdenken, glaube ich.«
Lau rie lachte. »Soll ich ihm einen Tipp geben?« »Hör auf, Laurie. Du weißt genau,
wie gern er dich hat. Er sieht andere Mädchen nicht einmal an.« »Das kann ich ihm
au ch nur raten«, sagte Laurie, die durchaus ein wenig Neid aus Amys Worten
he raushörte. Seitdem Laurie mit David ging, hatte sich auch Amy immer mit einem
F ootballspieler verabreden wollen. Manchmal störte es Laurie, dass zu ihrer
F reundschaft immer eine Art Wettbewerb um Jungen, Noten, Beliebtheit gehörte,
übe rhaupt um alles, was sich zu einem Wettbewerb eignete. Obg leich sie beste
F reundinnen waren, hinderte dieser beständige Wettbewerb sie daran, einander
wirklich nahe zu sein. Plötzlich wurde laut an die Tür geklopft, und jemand versuchte
z u öffnen. Die beiden Mädchen fuhren zusammen. »Wer ist da?« fragte Laurie.
» Direktor Owens«, antwortete eine tiefe Stimme. »Warum ist diese Tür
abge schlossen?« Amys Augen wurden ganz groß vor Schreck. Sie ließ ihre Zigarette
f allen und durchsuchte ihre Taschen nach einem Kaugummi oder einem Stück
Pfefferminz. »Oh, das muss aus Versehen geschehen sein«, antwortete Laurie und
g ing zur Tür.
» Sofort aufmachen!«
Lau rie warf der entsetzten Amy einen hilflosen Blick zu und öffnete die Tür.
Draußen standen Carl Block, Reporter der »Ente«, und Alex Cooper, der die
Musikberichte schrieb. Beide grinsten.
» Ach, ihr!« sagte Laurie verärgert. Amy sah aus, als wollte sie gleich ohnmächtig zu
Boden sinken, als die beiden größten Witzbolde der Schule eintraten. Carl war ein
g roßer, dürrer und hellblonder Junge. Der dunkelhaarige, stämmige Alex hatte über
seinen Kopfhörer die Ohren voll. Musik. »Geht hier etwas Verbotenes vor?« fragte
Carl und ließ die Augenbrauen auf und ab zucken.
» Deinetwegen habe ich eine kostbare Zigarette verschwendet«, beklagte sich Amy.
» Aber, aber. ..«, sagte Alex und schüttelte den Kopf. »Wie geht's mit der Zeitung
voran?« fragte Carl. Laurie war fast verzweifelt. »Das fragst du? Und dabei hat keiner
von euch beiden bisher seine Arbeit abgeliefert!«
» Oh ...« Alex schaute auf seine Uhr und zog sich zur Tür zurück. »Mir fällt gerade
e in, dass ich das Flugzeug nach Argentinien nicht verpassen darf.« »Ich fahre dich
zum Flughafen!« versicherte Carl und ging ihm nach.
Lau rie schaute Amy an und schüttelte müde den Kopf. »Diese beiden!« murmelte sie
und ba llte die Faust.
Irgend etwas störte Ben ROSS. Er wusste nicht genau, was es war, aber die Fragen
de r Schüler nach dem Geschichtskurs hatten etwas damit zu tun. Warum hatte er
den Mädchen und Jungen keine präzisen Antworten auf ihre Fragen geben können?
W ar da s Verhalten der Mehrheit während der Naziherrschaft wirklich so unerklärlich?
Ehe er am Nachmittag die Schule verließ, ging er noch in die Bibliothek und nahm
e inen Armvoll Bücher mit nach Hause. Christy, seine Frau, würde am Abend mit
F reunden Tennis spi elen, also konnte er lange ungestört seine Gedanken
weiterverfolgen.
Jetzt, nachdem er einige Stunden gelesen hatte, wusste Ben, dass er die richtige
Antwort nirgendwo in Büchern finden konnte. Er fragte sich, ob es sich hier um etwas
hande lte, was die Historiker zwar wussten, aber nicht mit Worten erklären konnten.
onnte man es überhaupt nur an Ort und Stelle richtig verstehen? Oder vielleicht
dadu rch, dass man eine ähnliche Situation schuf? Dieser Gedanke beschäftigte ihn.
Vielleicht sollte er eine Stunde ode r zwei auf ein Experiment verwenden und den
Schülern ein Gefühl dafür geben, was es bedeutet haben mochte, in Nazi-
Deutschland zu leben? Wenn es ihm gelang, eine treffende Situation zu erfinden,
konnte er damit die Schüler wirklich weit stärker beeind rucken als mit allem, was
Bücher erklären konnten. Es war jedenfalls einen Versuch wert.
Christy ROSS kam an diesem Abend erst nach elf Uhr heim. Sie hatte mit Freunden
T ennis gespielt und war dann mit ihnen zum Essen gegangen. Als sie heimkam, saß
i hr Mann inmitten von Büchern am Küchentisch. »Hausaufgaben?«
Gewissermaßen, ja«, antwortete Ben, ohne von seinen Büchern aufzublicken.
Auf einem der Bücher entdeckte Christy ein leeres Glas und einen Teller mit den
l etzten Krümeln von einem Sandwich. »Wenigsten s hast du noch daran gedacht,
e twas zu essen«, sagte sie, während sie den Teller fortnahm.
I hr Mann antwortete nicht. Er war noch immer ganz in sein Buch versunken.
» Ich wette, du brennst darauf, zu erfahren, wie hoch ich Betty Lewis heute
ge schlagen habe« , sagte sie neckend. Ben blickte auf. »Was sagst du?« »Ich habe
ge sagt, dass ich Betty Lewis heute geschlagen habe.«
I hr Mann sah völlig verständnislos drein. Seine Frau lachte. »Betty Lewis! Du weißt
do ch, die Betty, gegen die ich noch nie mehr als zwei Spiele in einem Satz
ge wonnen habe. Heute habe ich sie geschlagen. In zwei Sätzen. Sechs zu vier und
sieben zu fünf.« »Sehr gut«, sagte er und las weiter. Ein anderer wäre durch seine
o ffenbare Unhöflichkeit vielleicht verletzt gewesen; Christy war es nicht. Sie wusste,
da ss Ben zu den Menschen gehörte, die ganz und gar in einer Sache versinken
können, so sehr, dass sie vergessen, dass es noch etwas anderes auf der Welt gibt.
Sie erinnerte sich noch sehr gut, wie er sich während des Studiums für
a merikanische Indianer zu interessieren begann: Monatelang war er so sehr mit
I ndianern beschäftigt, dass er den Alltag völlig vergaß. An den Wochenenden
be suchte er Reservate oder durchforschte alle möglichen Büchereien nach staubigen
Bänden. Er brachte sogar Indiane r zum Essen mit heim und trug Mokassins! An
manchen Morgen fragte sich Christy, wann er in Kriegsbemalung erscheinen würde
... Aber so war Ben nun einmal. Einmal, während der Sommerferien, hatte sie ihm
Bridge beigebracht, und innerhalb eines Monats war er ein besserer Spieler als sie
selbst geworden, der unablässig darauf bestand, in jeder freien Minute Bridge zu
spielen. Seine Begeisterung ließ erst nach, als er ein örtliches Turnier gewonnen
ha tte und keine würdigen Gegner mehr finden konnte. Es war fast beängstigend, wie
sehr er sich in jedes neue Abenteuer einlebte.
Seufzend betrachtete Christy die auf dem Tisch verstreuten Bücher. »Was ist es
denn d iesmal? Wieder die Indianer? Astronomie? Die Verhaltensmuster der
Mörderwale?«
Als ihr Mann nicht antwort ete, nahm sie einige der Bücher zur Hand. »Aufstieg und
F all des Dritten Reiches? Die Hitler-Jugend?« Sie sah ihn fragend an. »Was hast du
vor? Willst du eine Diktatorprüfung bestehen?« »Das finde ich nicht komisch«,
an twortete Ben, ohne aufzublicken.
» Da hast du recht«, gab Christy zu. Ben ROSS lehnte sich zurück und sah seine
F rau an. »Einer meiner Schüler hat mir heute eine Frage gestellt, die ich nicht
bean tworten konnte.« »Was ist daran neu?« fragte Christy. »Ich glaube auch nicht,
»Ich werde es euch zeigen. Nehmen wir einmal an, ich könnte euch beweisen, dass
wir durch Disziplin Macht gewinnen können. Nehmen wir an, wir könnten das gleich
h ier im Klassenzimmer tun. Was würdet ihr dazu sagen?«
OSS hatte als Reaktion darauf irgendeinen Witz erwartet, und er war überrascht,
a ls der ausblieb. Das Interesse und die Neugier der Schüler schienen geweckt zu
sein. Ben ging an seinen Platz und stellte seinen Stuhl so, dass alle ihn sehen
konnten. »Also gut«, sagte er. »Disziplin beginnt mit der Haltung. Amy, komm bitte
e inmal her!« Als Amy auf stand, murmelte Brian: »Die Vorzugsschülerin!«
Üblicherweise hätte die Klasse darüber gelacht, aber jetzt grinsten nur ein paar, die
ande ren achteten nicht darauf. Alle fragten sich, was ihr Lehrer vorhaben mochte.
Als Amy sich vor den anderen auf den Stuh l gesetzt hatte, erklärte er ihr, wie sie
sitzen solle. »Kreuze die Hände auf dem Rücken und sitze absolut aufrecht. Merkst
du , dass du jetzt leichter atmen kannst?« Mehrere Schüler ahmten Amys Haltung
na ch. Aber wenn sie jetzt auch sehr aufrecht saßen, k
onn ten manche das doch nur
komisch finden. David versuchte einen Scherz: »Ist das hier Geschichtsunterricht,
ode r bin ich versehentlich in die Sportstunde geraten?« fragte er. Einige lachten,
versuchten aber zugleich, ihre Haltung zu verbessern.
» Versuch es, David«, sagte Ben. »Kluge Bemerkungen haben wir jetzt genug
gehö rt.« Mürrisch richtete David sich auf seinem Stuhl auf. Inzwischen ging der
Leh rer von einem Platz zum anderen und überprüfte die Haltung jedes einzelnen
Schülers. Es ist erstaunlich, dachte ROSS. Irgendwie hatte er sie eingefangen ...
sogar Robert...
» Klasse!« sagte er. »Ich möchte, dass ihr euch alle anseht, wie Robert sitzt. Die
Beine sind parallel, die Füße berühren einander, die Knie sind in einem Winkel von
neun zig Grad gebeugt. Seht ih r, wie senkrecht seine Wirbelsäule ist? Das Kinn ist
ange zogen, der Kopf gehoben. Das ist sehr gut, Robert!«
Robert, der Prügelknabe der Klasse, sah seinen Lehrer an und lächelte kurz, dann
verfiel er wieder in seine steife Haltung. Überall im Raum versuch ten die Schüler, ihn
na chzuahmen.
Ben ging nach vorn. »Gut. Und jetzt möchte ich, dass ihr alle aufsteht und in der
Klasse auf und ab geht. Sobald ich es befehle, kehrt jeder so schnell wie möglich an
seinen Platz zurück und nimmt die soeben eingeübte Halt ung ein. Los, aufstehen!«
Die Schüler standen auf und schlenderten durch die Klasse. Ben wusste, dass er
i hnen nicht zuviel Zeit geben durfte, weil sie sonst die nötige Konzentration verlieren
würden. Darum sagte er bald: »Setzen!« Die Schüler eilten an ih re Plätze. Es gab ein
ziemliches Gewirr, man lief gegeneinander, einige lachten, aber das vorherrschende
G eräusch war das der schurrenden Stuhlbeine, als die Schüler sich wieder setzten.
Ben schüttelte den Kopf. »Das war das wildeste Durcheinander, das ich je gesehen
habe. Wir spielen hier nicht irgendein Spielchen, sondern machen eine Haltungs
und Bewegungsübung. Versuchen wir es noch einmal. Aber diesmal ohne
G eschwätz. Je konzentrierter ihr seid, desto schneller werdet ihr eure Plätze
e rreichen. Fertig? Lo s, aufstehen!«
Z wanzig Minuten lang übte die Klasse aufzustehen, in scheinbarer Unordnung durch
d ie Klasse zu schlendern, auf Befehl des Lehrers schnell an die Plätze
zurückzukehren und die richtige Haltung einzunehmen. Ben gab seine Befehle nicht
wie e in Lehrer, sondern wie ein Unteroffizier auf dem Kasernenhof. Sobald das
r eibungslos klappte, baute Ben eine neue Schwierigkeit ein. Die Schüler mussten
no ch immer ihre Plätze verlassen und zu ihnen zurückkehren, doch jetzt vom Flur
he r, und Ben stoppte di e Zeit.
Beim ersten Versuch vergingen achtundvierzig Sekunden. Beim zweitenmal gelang
e s in einer halben Minute. Vor dem letzten Versuch hatte David eine Idee. »Hört
mal!« sagte er zu seinen Mitschülern, als sie draußen auf den Befehl des Lehrers
warteten. »Wir stellen uns gleich so auf, dass die ganz vorn stehen, die es bis zu
i hrem Platz am weitesten haben. Dann laufen wir uns wenigstens nicht gegenseitig
u m.« Die anderen stimmten zu. Als sie sich in der richtigen Reihenfolge aufgestellt
ha tten, bemerkten sie, dass Robert jetzt ganz vorn stand. »Der neue Anführer der
Klasse«, flüsterte einer, während sie auf das Zeichen warteten. Ben schnippte mit
den Fingern, und die Reihe der Schüler eilte eifrig und still in den Raum. Als der
l etzte Schüler saß, stoppte Ben die Zeit. Er lächelte. »Sechzehn Sekunden!« Die
Klasse jubelte.
» Ja, gut, seid jetzt still«, sagte der Lehrer. Zu seiner Überraschung beruhigten sich
d ie Schüler fast augenblicklich. Die Ruhe, die plötzlich im Raum herrschte, war fast
unhe imlich. So still war es in der Klasse sonst nur, wenn sie leer war.
» Und nun gibt es noch drei Regeln, die ihr zu beachten habt«, erklärte Ben.
Erstens: Jeder muss Block und Kugelschreiber für Notizen bereithalten. Zweitens:
W er eine Frage stellt oder beantwortet, mu ss aufstehen und sich neben seinen Stuhl
stellen. Drittens: Jede Frage oder Antwort beginnt mit den Worten >Mister Ross<. Ist
da s klar?« Alle nickten.
» Gut«, sagte Mr. ROSS. »Brian, wer war britischer Premierminister vor Churchill?«
Brad blieb sitzen und kratzte sich hinter dem Ohr. »Hm, war das nicht.. .«
Doch ehe er mehr sagen konnte, unterbrach ihn Ben. »Falsch, Brad. Du hast die
Regeln schon wieder vergessen, die ich gerade aufgestellt habe.« Er blickte zu
Robert hinüber. »Robert, zeige du Brad, wie man e ine Frage richtig beantwortet.«
Sofort stand Robert straff aufgerichtet neben seinem Stuhl. »Mister ROSS!«
» Richtig!« bestätigte der Lehrer. »Danke, Robert!« »Ach, das ist doch blöd!« murrte
Brad. »Aber bloß, weil du es nicht richtig gemacht hast«, sagt e einer.
» Brad«, wiederholte Ben ROSS, »wer war Premierminister vor Churchill?«
Diesmal stand Brad auf. »Mister ROSS, es war, hm, Premierminister, ich glaube. ..«
» Du bist noch zu langsam, Brad«, erklärte der Lehrer. »Von jetzt an antwortet jeder
so kurz wie möglich, und ihr spuckt die Antwort förmlich aus, sobald ihr gefragt
werdet. Versuch es noch einmal, Brad!« Diesmal sprang Brad auf. »Mister ROSS,
Chamberlain!« Ben nickte zustimmend. »Jawohl, so beantwortet man Fragen.
Schnell, präzise und mit Nachdru ck. Andrea, in welches Land fiel Hitler im
September 1939 ein?« Die Ballett-T änzerin Andrea stand steif neben ihrem Stuhl.
» Mister ROSS, ich weiß es nicht.« Mr. ROSS lächelte. »Trotzdem ist es eine gute
Antwort, weil du die richtige Form gewählt hast. Amy, weißt du es?«
Amy sprang auf. »Mister ROSS, Polen!« »Ausgezeichnet«, sagte Ben. »Brian, wie
h ieß Hitlers politische Partei?« Brian stand schnell auf. »Mister ROSS, die Nazis.«
Mister ROSS nickte. »Das war gut, Brian. Sehr schnell. Weiß aber auch jemand den
o ffiziellen Namen der Partei? Laurie?«
Lau rie Saunders stellte sich neben ihren Stuhl. »Die Nationalsozialistische. ..«
» Nein!« unterbrach sie der Lehrer scharf und schlug mit einem Lineal auf sein Pult.
» Noch einmal, aber korrekt, bitte ich mir aus!«
Lau rie setzte sich, und ihr Gesicht verriet ihre Verwirrung. Was hatte sie denn falsch
ge macht? David beugte sich zu ihr und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie stand wieder
au f. »Mister ROSS, die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei.« »Richtig«,
bestätigte Ben. Er stellte noch viele Fragen, und immer sprangen seine Schüler auf
und be wiesen, dass sie nicht nur die richtigen Antworten kannten, sondern auch die
F orm beherrschten, in der sie zu geben waren. Es herrschte eine völlig andere
Atmosphäre als sonst in der Klasse, doch weder Ben noch seine Schüler dachten
da rüber nach. Sie waren viel zu sehr in dieses neue Spiel versunken.
G eschwindigkeit und Genauigkeit der Fragen und Antworten wirkten irgendwie
einziger Schüler: Robert. Er stopfte sein Hemd in den Gürtel und bemerkte nicht,
da ss er nicht allein war. Während David ihm zusah, strich der absolute Versager der
Klasse sich das Haar glatt und betrachtete sein Spiegelbild. Dann stand er plötzlich
gan z starr und steif aufgerichtet da. Nur seine Lippen bewegten sich wie zu einer
Antwort. David blieb wie gebannt stehen, während Robert die richtige Haltung bei der
Beantwortung einer Lehrerfrage einübte.
Spät am Abend saß Christy ROSS im Schlafzimmer auf dem Bettrand und kämmte
i hr langes, kastanienbraunes Haar. Ben nahm einen Schlafanzug aus der Kommode.
» Weißt du«, sagte er, »ich war überzeugt, sie hätten etwas dagegen, sie würden sich
n icht zwingen lassen, wie die Puppen zu sitzen , aufzuspringen und ihre Antworten
he rauszuschreien. Aber sie haben sich eher so benommen, als hätten sie ihr Leben
l ang auf so etwas gewartet.« »Glaubst du nicht, dass es einfach ein Spiel für sie war,
da ss sie einen Schnelligkeitswettbewerb ausgetragen haben?«
Das hat sicher dazu beigetragen«, stimmte Ben zu. »Aber selbst ein Spiel wählt
man aus, oder man lehnt es ab. Sie mussten dieses Spiel nicht spielen, sie wollten
e s. Und was ich am unheimlichsten fand: Sobald wir einmal angefangen hatten,
spürte i ch, dass sie mehr davon wollten. Sie wollten diszipliniert werden. Und jedes
Mal, wenn sie eine neue Regel beherrschten, wollten sie eine neue. Als es am Ende
de r Stunde läutete, blieben sie auf ihren Plätzen sitzen. Ich bin ganz sicher, dass es
f ür sie meh r als ein Spiel war.«
Christy hörte auf, ihr Haar zu kämmen. »Wie denn? Sie sind tatsächlich noch nach
de m Läuten geblieben?« fragte sie ungläubig. Ben nickte. »Genau das meine ich.«
Seine Frau sah ihn skeptisch an, dann lächelte sie. »Ben, ich glaube, du ha st ein
Monster erschaffen.« »Wohl kaum«, gab er lachend zurück. Christy legte den Kamm
au s der Hand und cremte ihr Gesicht ein. Ben zog die Pyjamajacke über. Christy
wartete, dass ihr Mann sie wie üblich küsste, doch der Gutenachtkuß blieb heute
au s. Ben war noch zu sehr in seine Gedanken versunken. »Ben?« sagte Christy.
» Ja?«
» Meinst du, dass du diese Sache morgen fortsetzen solltest?«
» Ich glaube nicht«, antwortete ihr Mann. »Wir müssen allmählich zum japanischen
F eldzug übergehen.« Christy schloss di e Cremedose und lehnte sich zurück. Ben
ha tte sich noch immer nicht gerührt. Er hatte seiner Frau erzählt, wie überraschend
d ie Schüler auf seinen Versuch eingegangen waren, aber er hatte ihr nicht gesagt,
da ss auch er ganz davon eingefangen gewesen war. Es war fast peinlich,
zuzugeben, dass auch er sich von einem so simplen Spiel fesseln lassen konnte.
Aber wenn er darüber nachdachte, war ihm klar, dass genau dies geschehen war.
Der lebhafte Austausch von Fragen und Antworten, das Bemühen um Disziplin - da s
a lles war ansteckend gewesen und gewissermaßen wie eine Hypnose. Die Leistung
seiner Schüler hatte ihm gefallen. Wirklich interessant, dachte er, als er zu Bett ging.
Was am nächsten Tag geschah, empfand Ben als völlig ungewöhnlich. Diesmal
kamen seine Schüler nicht nach dem Läuten allmählich in die Klasse geschlendert,
sondern er selbst kam zu spät. Er hatte seine Notizen für den Unterricht und ein
Buch über Japan im Wagen vergessen und musste vor Stundenbeginn noch einmal
zum Parkplatz lau fen. Als er dann in die Klasse stürzte, erwartete er, eine Art
I rrenhaus vorzufinden, doch er erlebte eine Überraschung.
Im Klassenzimmer standen fünf säuberliche Tischreihen von je sieben Tischen, und
an jedem Platz saß ein Schüler in der steifen Haltung, die Ben gestern
» vorgeschrieben« hatte. Es herrschte Stille, und Ben ließ den Blick ein wenig ratlos
du rch die Klasse wandern. Sollte das ein Spaß sein? Hier und da sah er ein Gesicht,
i n dem sich das Lächeln nur mühsam versteckte, doch die meisten Gesich ter
verrieten Aufmerksamkeit, die Blicke waren starr geradeaus gerichtet, alle schienen
sich zu konzentrieren. Einige Schüler sahen ihn unsicher an, als warteten sie ab, ob
e r das Experiment weiterführen würde oder nicht. Sollte er? Es war eine so neue
Erf ahrung, und sie wich so sehr von der Norm ab, dass er sich unsicher fühlte. Was
konnten die Schüler aus diesem Versuch lernen? Was konnte er selber lernen? Ben
spürte die Versuchung des Unbekannten und beschloss, dass es der Mühe wert sei,
seinen Versuch f ortzusetzen. »Also«, sagte er und legte seine Notizen beiseite, »was
geh t hier vor?«
ie Schüler blickten ihn unsicher an. Ben schaute zur entfernten Seite des Raumes.
» Robert?« Robert Billings sprang auf. Sein Hemd steckte säuberlich im Gürtel, sein
Haar war gekämmt. »Mister ROSS, Disziplin!«
» Ja, Disziplin«, stimmte Mr. ROSS zu. »Aber das ist nur ein Teil von allem. Es gehört
no ch mehr dazu.« Er wandte sich zur Wandtafel, und unter die gestrigen Worte
MACHT DURCH DISZIPLIN schrieb er:
Dann wandte er sich wieder der Klasse zu. »Gemeinschaft ist das Band zwischen
Menschen, die für ein gemeinsames Ziel arbeiten und kämpfen. Das ist schon so,
wenn man gemeinsam mit seinen Nachbarn eine Scheune baut.«
Ein paar Schüler lachten. Aber David war klar , was der Lehrer meinte. Genau
da rüber hatte er gestern nach dem Unterricht nachgedacht. Es war so etwas wie der
Mannschaftsgeist, den das Footballteam brauchte. »Es ist das Gefühl, Teil eines
G anzen zu sein, das wichtiger ist als man selbst«, erklärte Mr. ROSS. »Man gehört
zu einer Bewegung, einer Gruppe, einer Überzeugung. Man ist einer Sache ganz
e rgeben .. .« »So eine Gemeinschaft ist gar nicht schlecht«, murmelte einer, doch
seine Nachbarn brachten ihn schnell zum Schweigen.
» Es ist genau wie mit der Disziplin: Um die Gemeinschaft ganz zu begreifen, muss
man sie erfahren und daran teilhaben. Von diesem Augenblick an lauten unsere
be iden Grundsätze:
und
Und jetzt wiederholen alle diese beiden Grundsätze!« Alle Schüler im Raum stellten
sich neben ihre Plätze und sagten: »Macht durch Disziplin! Macht durch
G emeinschaft!«
Einige wenige Schüler, darunter Laurie und Brad, beteiligten sich nicht daran,
sondern saßen verlegen auf ihren Stühlen, während Mr. ROSS d ie Grundsätze
no chmals wiederholen ließ. Endlich stand Laurie auf, dann auch Brad. Jetzt stand die
ge samte Klasse. »Und nun brauchen wir ein Symbol für unsere neue Gemeinschaft«,
e rklärte Ben ROSS. Er wandte sich wieder der Tafel zu, und nach kurzem
Nachden ken zeichnete er einen Kreis mit einer Wellenlinie darin. »Das soll unser
Symbol sein. Eine Welle bedeutet Veränderung. In ihr vereinen sich Bewegung,
Richtung und Wucht. Von jetzt an trägt unsere Gemeinschaft, unsere Bewegung den
antwortete Brian. Deutsch spottete: »Du bist doch bloß erste Wahl, weil du älter bist
a ls ich.« Brian saß noch immer auf dem Boden und schaute zu dem Jüngeren auf.
» Mann, du bist doch das dickste Bündel an Talentlosigkeit, das ich je gesehen
habe !« sagte er. »Na, du musst es ja wissen!« fauchte Deutsch zurück. David sah
dann nu r noch, dass Brian plötzlich aufsprang und d ie Fäuste ballte. Er drängte sich
zwischen die beiden. »Genau darüber habe ich eben gesprochen!« sagte er,
während er die Streithähne trennte. »Wir sollten eine Mannschaft sein. Wir sollten
e inander unterstützen. Und wenn wir so mies sind, dann liegt da s bloß daran, dass
wir dauernd miteinander streiten.« Jetzt waren noch mehr Spieler in der Halle.
» Wovon redet der eigentlich?« fragte einer von ihnen. David wandte sich ihm zu.
» Von Einigkeit rede ich. Über Disziplin. Wir müssen endlich anfangen, uns wie e ine
Mannschaft zu benehmen, die ein gemeinsames Ziel hat. Keiner hat die Aufgabe,
e inem anderen den Platz in der Mannschaft abzujagen, sondern jeder soll dazu
be itragen, dass die Mannschaft gewinnt!« »Ich könnte schon meinen Teil dazu
be itragen, dass die Mannschaft gewinnt«, behauptete Deutsch. »Dazu braucht
T rainer Schiller mich nur aufzustellen.« »Nein!« fuhr David ihn an. »Eine Bande von
e itlen Einzelspielern ist noch lange keine Mannschaft. Weißt du, warum wir in diesem
Jahr so schlecht abgeschnitten haben? Weil wir fünfundzwanzig Ein-Mann-T eams
sind, die zufällig alle die gleiche Spielkleidung anhaben. Du möchtest gern der erste
Mann in der Mannschaft sein, nicht wahr? Wärst du auch gern der zweite in einer
Mannschaft, die gewinnt?« Deutsch zu ckte die Achseln. »Vom Verlieren habe ich
jedenfalls die Nase voll«, sagte ein anderer.
» Stimmt«, bestätigte sein Nachbar. »Das ist doch zum Verzweifeln! Nicht einmal
un sere eigene Schule nimmt uns noch ernst.«
» Also, ich gebe meinen Platz in der Mannschaft gern auf und spiele dafür den
W asserträger, wenn wir dadurch gewinnen können«, versicherte einer. »Wir könnten
ja gewinnen«, behauptete David. »Ich will nicht gerade sagen, dass wir am Samstag
d ie Leute aus Clarkstown vom Platz fegen können, aber wenn wi r endlich anfangen,
e ine Mannschaft zu sein, dann könnten wir in diesem Jahr auch ein paar Spiele
ge winnen.« Inzwischen war das Team fast vollzählig, und David merkte deutlich,
da ss ihm alle interessiert zuhörten. »Okay«, sagte einer. »Was tun wir also?« Einen
Augenblick zögerte David noch. Die Welle war die Lösung. Aber wer sollte es den
ande ren sagen? Er selbst wusste doch auch erst seit gestern davon. Plötzlich spürte
e r, dass jemand ihn anstieß. »Erzähl's ihnen«, wisperte Eric. »Erzähl ihnen von der
W ell e!« Verflixt, dachte David. »Also gut«, sagte er. »Ich weiß bloß, das ihr erst
e inmal die Grundsätze lernen müsst. Und der Gruß, der geht so. ..«
Am Abend erzählte Laurie Saunders ihren Eltern vom Geschichtsunterricht der
l etzten beiden Tage. Die Familie Saunders saß am Abendbrottisch. Fast während der
gan zen Mahlzeit hatte der Vater in allen Einzelheiten von der Runde erzählt, die ihm
heu te auf dem Golfplatz gelungen war. Mr. Saunders war Abteilungsleiter in einer
g roßen Fabrik für Halbleit er. Seine Frau sagte, sie habe gegen die Golfleidenschaft
i hres Mannes gar nichts einzuwenden, denn auf dem Golfplatz könne er sich am
be sten von allen Belastungen und Enttäuschungen seiner Arbeit befreien. Wie er das
f ertig bringe, könne sie zwar auch nicht erklären, aber solange er in guter Laune
na ch Hause käme, werde sie nichts gegen das Golfspiel sagen.
Der Meinung war Laurie auch, selbst wenn ihr die endlosen Golfberichte ihres Vaters
manchmal sterbenslangweilig vorkamen. Die fröhliche Ausgeglichenhei t des Vaters
war ihr immer noch lieber als die ewigen Sorgen ihrer Mutter, die dabei
w ahrscheinlich die klügste und aufmerksamste Frau war, die Laurie kannte. Sie war
e s, die die Wählergemeinschaft der Frauen in Schwung hielt, und sie war politisch so
gu t informiert, dass hoffnungsvolle Politiker oft zu ihr kamen und sie um ihren Rat
f ragten. Laurie fand ihre Mutter sehr lustig, solange alles gutging. Sie steckte voller
I deen, und man konnte stundenlang mit ihr reden. Aber zu anderen Zeiten, wenn
Lau rie sich über irgend etwas aufregte, oder wenn sie ein Problem hatte, dann war
d iese Mutter eine Qual. Man konnte nichts vor ihr verbergen. Und wenn Laurie erst
zugegeben hatte, wo ihre Schwierigkeit lag, dann war es mit ihrer Ruhe endgültig
vorbei. Als Laurie am Abend von der Welle erzählte, geschah dies hauptsächlich
de shalb, weil sie die Golferzählung ihres Vaters auch nicht eine Minute länger
e rtragen konnte. Sie sah genau, dass ihre Mutter sich ebenfalls langweilte. In der
l etzten Viertelstunde hatte Mrs. Saunde rs mit dem Fingernagel einen Wachsfleck aus
de r Tischdecke gekratzt.
» Es war einfach unglaublich«, erzählte Laurie. »Alle haben gegrüßt und die
G rundsätze wiederholt. Man konnte gar nichts dagegen tun. Man wurde einfach
mitgerissen, wollte einfach, dass es gut funktionierte. Und man spürte, wie sich
a llmählich eine gemeinsame Kraft entwickelte.« Mrs. Saunders kratzte nicht mehr am
T ischtuch und sah ihre Tochter an. »Das gefällt mir nicht, Laurie. Es kommt mir so
militaristisch vor.«
» Du siehst immer glei ch alles von der schlechten Seite«, wandte ihre Tochter ein.
» Damit hat es wirklich nichts zu tun. Ehrlich, du müsstest nur einmal dabei sein, dann
würdest du merken, was da für ein positives Gefühl entsteht.«
Mr. Saunders stimmte ihr zu. »Um die Wahrheit zu sagen: Ich bin für alles, was die
Kinder dazu bringt, heutzutage überhaupt noch auf irgend etwas zu achten.« »Das
t ut es wirklich«, versicherte Laurie. »Selbst die Schwachen sind dabei. Du kennst
do ch Robert Billings, den Versager der Klasse? Selbst er ist jetzt ein Teil der Gruppe.
Keiner hat sich seit zwei Tagen mit ihm angelegt. Und das ist doch schon etwas
Positives, oder?« »Aber eigentlich sollt ihr Geschichte lernen und nicht, wie man Teil
e iner Gruppe wird«, wandte Mrs. Saunders
e in. »Ach, weißt du« , sagte ihr Mann, »unser Land wurde schließlich von Menschen
au fgebaut, die Teil einer Gruppe waren, von den Pilgervätern. Ich glaube, es ist gar
n icht schlecht, wenn Laurie lernt, wie man gemeinsam arbeitet. Wenn es bei uns in
de r Fabrik ein bisschen meh r Kooperation gäbe und nicht nur diese ewigen
Auseinandersetzungen und die ständige Besserwisserei, dann hätten wir in diesem
Jahr keinen Produktionsrückstand.«
» Ich habe nicht behauptet, Zusammenarbeit sei schlecht«, wehrte sich seine Frau.
» Aber jeder muss auch die Möglichkeit haben, auf seine eigene Art zu arbeiten.
W enn du schon von der Größe unseres Landes redest, dann sprichst du
no twendigerweise auch von Menschen, die sich nicht davor gefürchtet haben, als
I ndividuen zu handeln.«
» Ich glaube wirklich, du siehst das ganz falsch«, sagte Laurie. »Mr. ROSS hat
e infach eine Möglichkeit gefunden, alle einzubeziehen. Und schließlich machen wir
i mmer noch unsere Hausaufgaben. Wir haben die Geschichte ja nicht einfach
vergessen.« »Das ist alles gut und schön. Es hört sich nur nicht so an, als wäre es
gu t für dich, Laurie. Schließlich haben wir dich zu einem selbständigen Menschen
e rzogen.« Lauries Vater wandte sich an seine Frau. »Meinst du nicht auch, dass du
da s ein wenig zu ernst nimmst? Ein bisschen Gemein schaftsgeist kann den Kindern
do ch bestimmt nicht schaden.«