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Dieser Artikel von Christina Markoudi untersucht den Zusammenhang zwischen Identität und Sexualität anhand der literarischen Figur des Gustav von Aschenbach in Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig.
Art: Leitfäden, Projektarbeiten und Recherchen
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Hochgeladen am 10.04.2020
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Christina MARKOUDI Aristoteles University of Thessaloniki [email protected]
Recibido: noviembre de 2007 Aceptado: enero de 2008
ZUSAMMENFASSUNG Dieser Artikel untersucht den Zusammenhang zwischen Identität und Sexualität anhand der literarischen Figur des Gustav von Aschenbach in Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig. Dabei werden aus der Perspektive der gender studies Aschenbachs Feminisierung und Travestie aufgedeckt und sein Sexualverhalten untersucht. Homosexualität und Pädophilie erweisen sich als Triebkräfte auf dem Weg der Selbstfindung Aschenbachs. Der vormals gesittete Künstler sprengt jegliche gesellschaftlichen Grenzen, indem er sexuelle Tabus ignoriert und die dichotomische Weltbeschaffenheit für sich aufhebt. Seine Mehrfachzugehörigkeit zu verschiedenen Kontexten entlarvt das Hybride des modernen Menschen und offenbart Aschenbach als eine postmoderne literarische Figur avant la lettre.
Palabras clave: Identität, Sexualität, gender studies, Homosexualität, Travestie, Hybrid
ABSTRACT This article focuses on the relationship between identity and sexuality throughout the figure of the writer Gustav von Aschenbach in Thomas Mann's novel Der Tod in Venedig (The death in Venice). Using the gen- der studies perspective Aschenbachs feminization and travesty are uncovered by examination of his sexual habits. In this way, homosexuality and pedophilia turn out to be the major motivations for Aschenbach
s search for his individual identity construction. So unto himself, the artist injures all the laws of his conser- vative and traditional social context by ignoring sexual taboos and overcoming the dichotomous perception of the world. As a result, his oscillation between opposite gender contexts reveals him as a representative of a hybrid constitution of being and thus, as a postmodern literary character avant la lettre.
Key words: Identity, sexuality, gender studies, homosexuality, travesty, hybrid.
RESUMEN Este artículo estudia la relación entre la identidad y la sexualidad sobre la base del personaje literario de Gustav von Aschenbach en la novela Der Tod in Venedig de Thomas Mann. Para ello, se examinan la afemi- nación y el travestismo de Pour Aschenbach desde la perspectiva de los gender studies y al mismo tiempo de sus costumbres sexuales. La homosexualidad y la pedofilia constituyen una serie de fuerzas importantes en su camino hacia el conocimiento de sí mismo. El artista moral del pasado hace saltar todas las fronteras socia- les ignorando los tabúes sexuales y anulando la dicotomía vacía del mundo. Su pertenencia a diversos con- textos revela el aspecto híbrido del hombre postmoderno avant la lettre y presenta medios alternativos de existencia.
Palabras clave: identidad, sexualidad, gender studies, homosexualidad, travestismo, hibricidad.
Revista de Filología Alemana ISSN: 1133-
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INHALTSVERZEICHNIS : 1. Einleitung. 2. Alter und Jugend. 3. Maskerade und Travestie. 4. Träume und Projetktionen als Raumschaffer sexueller Selbstfindungprozesse. 5. Die Zweiteilung der Welt und deren all- mähliche Auflösung. 6. Pädophilie bei Thomas Mann. 7. Die Androgynität als Möglichkeit der Identitätsfindung. 8. Der Mann als Zwitterwesen. 9. Resümee: Das Konzept einer “ganzheitlichen” Identität durch das zwitterhafte Sein.
1. Einleitung
Die Künstlerfigur Gustav von Aschenbach in Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig durchlebt einen Prozess der Selbstfindung, der durch den vierzehnjäh- rigen Tadzio initiiert wird. Aschenbach gerät in eine Identitätskrise und beginnt sich zunehmend zu verändern: innerlich wie auch äußerlich überschreitet er jegli- che gesellschaftlichen Grenzen, maskiert und travestiert sich, um dem Jungen zu gefallen. Im Sinne einer vollständigen Dekonstruktion seiner männlich konnotier- ten Identität eignet sich Aschenbach zunehmend weiblich konnotierte Verhaltensweisen an ( gender trouble ) und artikuliert schließlich seine bislang zutiefst unterdrückte Körperlichkeit in Form einer homoerotisch-pädophilen Zuneigung Tadzio gegenüber. Als moderner “homme fatal” lockt der Knabe den ältlichen Künstler in den Abgrund seines Selbst, konfrontiert diesen mit seinen intimsten Wünschen und Gelüsten und bewirkt die Verabschiedung seiner bisher gesitteten Existenz. Während Aschenbach zu sich selbst findet, werden alteinge- sessene Dichotomien annulliert: Körper/Geist, Rationalität/Irrationalität und männlich/weiblich bilden keine Gegensatzpaare mehr, sondern fließen ineinander. Aschenbach beschreitet exemplarisch einen Weg der Selbstverwirklichung, der den Menschen als Hybrid entlarvt. Sexualität spielt währenddessen eine entschei- dende Rolle für die Identitätskonzipierung des Subjekts. Sie erweist sich als kom- plexe Triebkraft, die durchaus zu Homosexualität, Pädophilie, Travestie und einer potentiellen Zwitterhaftigkeit führen kann. Identität beschreibt somit auch keinen starren, unveränderlichen Zustand, sondern ein fragiles Konstrukt, das sich in unmittelbarer Abhängigkeit von Sexualität konzipiert, wie anhand des Beispiels Aschenbachs erkenntlich ist. Dieser erkundet “fremde Räume” (der Seele) und erschließt sich neue Möglichkeiten des Seins, die ein ganzheitliches Verständnis von Identität fernab des traditionell binären Weltverständnisses erlauben. Dieser Artikel untersucht Aschenbachs Weg der Identitätsfindung über seine sexuelle Entfaltung aus der Perspektive der gender studies im Hinblick auf eine Auflösung des dichotomischen Verständnisses der Geschlechterrollen, die eine “Mehrfachzugehörigkeit zu verschiedenen Kontexten _^ cross cutting identities”^1 ermöglicht.
(^1) Bell, Communitarism and its Critics , 1993, zitiert nach KROLL (Hg), G ender Studies. Geschlechter- forschung, 8.
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unvollkommene, elliptische Identitätskonstituierung bieten kann. Denn bis zu dem Zeitpunkt seiner Metamorphose unterdrückt Aschenbach offensichtlich innere Triebe, was darauf verweist, dass das Gerüst des Konstrukts seiner Identität auf äußerst “wackligen Beinen” steht. Seine Reise nach Venedig fungiert als Initiation, als Befreiungsakt und neuer Raum für seine aufflammenden Sehnsüchte und Gefühle, als deren Auslöser der vierzehnjährige Jüngling Tadzio in Erscheinung tritt. Dieser vollkommen schöne (vgl. T 50) Knabe bewirkt bei Aschenbach eine Verwandlung, die ihn sinnen und träumen lässt (vgl. T 92). Der Künstler entschwebt in eine “entstellte Welt voll panischen Lebens” (T 93) und entdeckt anhand der Figur Tadzios seine unter- drückten Triebe, die in der Folge in einer pädophil gefärbten Beziehung zum gleichgeschlechtlichen Jungen Ausdruck finden. Dabei bildet Tadzios Jugend einen bedeutenden Gegensatz zu Aschenbachs Alter. Einen Zustand, in den sich der alternde Mann, wenn möglich, zurückversetzen würde. Die Gegensatzpaare, die sich bereits zu Beginn der Novelle manifestieren, bil- den schließlich Leitmotive des gesamten Werkes: Heimat/Ferne und Jugend/Alter. Aschenbach entwickelt sich zu einem alternden Menschen, den die Sehnsucht ins Weite und Fremde gelockt hat (vgl. T 124). Das “Weite und Fremde” sei hier jedoch mit einer Doppelbedeutung interpretiert, einerseits als geografischer Ort, weit von der Heimat entfernt liegend und andererseits als seelischer Topos, den es zu erreichen und zu entdecken gilt. Alter und Jugend erscheinen als Komplementärgewalten: Aschenbach empfindet sich und sein Lustobjekt als zwei Individuen, die folgende Gegensätze verkörpern: “ein Ältlicher und ein Junger, ein Hässlicher und ein Schöner, der Weise beim Liebenswürdigen” (vgl. T 85). Aschenbach als Älterer ist somit “der Hässliche, jedoch der Weise, während der Jüngere der Schöne und Liebenswürdigere ist”. 5 Jugend bedeutet für Aschenbach eine Quelle, an der er nicht nur seinen künstlerischen Durst stillen kann, sondern die ihm, gleich eines magischen Trankes, Lebenskraft einflößt. Tadzios Schönheit assoziiert der Künstler mit dessen Jugend, die er abgöttisch verehrt und an der er sich laben möchte. An dieser Stelle sei erneut das Bild einer stärkenden Wasserquelle gezeichnet, die den seelisch wie körperlich ausgetrockneten Alten zu neuen Kräften erweckt. Tadzio erhebt sich zum Leitfaden in Aschenbachs Leben, als Inspirationsquelle, Angebeteter und nicht zuletzt als Lustobjekt des alternden Künstlers geleitet er diesen bis zu seinem Tod.
3. Maskerade und Travestie
Das äußere Erscheinungsbild Aschenbachs und Tadzios spiegelt auf auffallen- de Weise die seelische Verfassung und gesellschaftliche Rolle der Individuen wider. Der vierzehnjährige Tadzio strahlt Anstand aus: er trägt ein englisches Matrosenkostüm, dessen Ärmel seine kindlichen Hände umspannen. Seine
(^5) K OTTOW, a.a.O., 231.
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Gesichtshaut “weiß wie Elfenbein” erinnert zusammen mit dem “goldige[n] Dunkel der umrahmenden Locken” (vgl. T 51) an eine zerbrechliche Porzellanfigur. Es ist offensichtlich, dass Äußerlichkeiten mehr sind als Indizien auf das Alter und die Herkunft der Figuren. Die Bilder, die von beiden Figuren entworfen wer- den, stellen Konstrukte dar, die infolge dekonstruiert werden. Dies lässt sich am besten in Aschenbachs Fall veranschaulichen: dieser trägt zunächst eine imaginäre “Uniform der Gesittung” (T 49), die ihn als gesellschaftskonformen, konservati- ven Fünfzigjährigen agieren lässt. Gleichzeitig entlarvt er mit Abscheu einen mit anderen feiernden, auffällig, “übermodisch” angezogenen Mann auf dem Schiff nach Venedig als “falschen Jüngling”. Er beobachtet detailgenau die Runzeln um dessen Mund, die Karmesin-Schminke auf den Wangen, die Perücke auf dem Kopf, sein “aufgesetztes Schnurrbärtchen”, seinen billigen Zahnersatz und die Siegelringe an seinen Zeigefingern (vgl. T 34f). Verächtlich mustert er den Greis und kritisiert insgeheim dessen Verkleidung. Für ihn hat ein Mann seines Alters kein Anrecht auf die Gemeinschaft mit jüngeren Menschen, geschweige denn auf derart “stutzerhafte und bunte Kleidung” (T 35). Was Aschenbach zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht ahnt, ist, dass er selbst schon bald seine Einstellung revidieren wird. Auch nimmt der “falsche Jüngling Aschenbachs spätere Liebesverfallenheit und Entwürdigung allegorisch vorweg”. 6 Er, der sittliche und stets angepasste Künstler, wird sich selbst verwandeln, um seinem Lustobjekt Tadzio zu imponieren. Sein Erscheinungsbild, das Konstrukt einer patriarchalen Gesellschaft, wird schon bald in sich zusammenbrechen und einem verliebten Fünfziger Platz spenden. Aschenbach wird sich nach seiner Begegnung mit dem vierzehnjährigen Tadzio darüber bewusst, dass er alt geworden ist: “Er verweilte dort [im Hotelzimmer] drinnen längere Zeit vor dem Spiegel und betrachtete sein graues Haar, sein müdes und scharfes Gesicht” (T 65). Er realisiert, dass zwischen Tadzio und ihm Gegensätze dominieren. Je tiefer seine Bewunderung und in Folge auch seine Erregung für den hübschen Knaben werden, desto gespannter erscheint das Verhältnis zu seinem eigenen äußeren Erscheinungsbild. Tadzio wird gänzlich zum Mittelpunkt seines Strebens:
Wie irgendein Liebender wünschte er zu gefallen und empfand bittere Angst, dass es nicht möglich sein möchte. Er fügte seinem Anzuge jugendlich aufheiternde Einzelheiten hinzu, er legte Edelsteine an und benutzte Parfums, er brauchte mehrmals am Tag viel Zeit für seine Toilette und kam geschmückt, erregt und gespannt zu Tische. Angesichts der süßen Jugend, die es ihm angetan, ekelte ihn sein alternder Leib; der Anblick seines grauen Haares, seiner scharfen Gesichtszüge stürzte ihn in Scham und Hoffnungslosigkeit. Es trieb ihn, sich körperlich zu erquicken und wiederherzustellen; er besuchte häufig den Coiffeur des Hauses (T 128f).
Unter der Maske eines jugendlicher Wirkenden versucht Aschenbach, Tadzios Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und diesem zu imponieren. Fernab jeglicher
(^6) S CHEDE , Thomas Mann: Der Tod in Venedig, 23.
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Künstlerproblematik als spannungsreiches Verhältnis zwischen dem bürgerlichen Leben und der Kunst bildet ein weiteres Leitthema der Novelle. 9
Aschenbachs moralische Vorstellungen von Arbeit, Kunst und Leben lassen sich uns- chwer als der apollinischen Linie zugehörig einordnen. Die Bedrohung, die von Anfang des Textes an das Gleichgewicht des Schriftstellers ins Wanken zu bringen sucht, kann mit dem dionysischen Trieb identifiziert werden. 10
Beeinflusst von Nietzsche, Freud und anderen bedeutenden Intellektuellen sei- ner Zeit kreiert Thomas Mann eine perfektionistische Künstlerpersönlichkeit, die sich Zeit ihres Lebens für die Kunst geopfert hat: “Aschenbach hatte es unmittel- bar ausgesprochen, daß beinahe alles Große, was dastehe, als ein Trotzdem daste- he, trotz Kummer und Qual, Armut, Verlassenheit, Körperschwäche, Laster, Leidenschaft und tausend Hemmnissen zustande gekommen sei” (T 23). Aschenbach als einsamer Skeptiker verkörpert zunächst eine klassische Fin-de- Siècle-Figur, die Befriedigung lediglich im Trachten nach der Kunst sucht. Somit erklärt sich auch “Aschenbachs anfängliche Tendenz, Tadzio wie ein Kunstwerk zu taxieren, als Rationalisierung seiner persönlichen Ergriffenheit”: 11 “[Tadzio] erinnerte an griechische Bildwerke aus edelster Zeit, und bei reinster Vollendung der Form war es von so einmalig persönlichem Reiz, dass der Schauende weder in Natur noch bildender Kunst etwas ähnlich Geglücktes angetroffen zu haben glaub- te” (T50). Mit verblüffender Detailfreude prägt Aschenbach sich die Gestalt des Jungen ein und rechtfertigt seine Bewunderung, indem er in Gedanken darüber reflektiert, dass “fast jedem Künstlernaturell […] ein üppiger und verräterischer Hang einge- boren [ist], Schönheit schaffende Ungerechtigkeit anzuerkennen und aristokratis- cher Bevorzugung Teilnahme und Huldigung entgegenzubringen” (T 52). Tadzio verkörpert in Aschenbachs Augen den Eros (vgl. T 57) und wird zu einer “voll- kommen ausfüllenden Aufgabe und Beschäftigung” (T 63) für den Künstler, der seine Zeit nur noch damit verbringt, Tadzio zu beobachten. Das Leben gewinnt einen neuen Sinn, erstmals fühlt Aschenbach sich jenseits seines Zuhauses wohl und will bleiben (vgl. T 64). Dennoch fasst er den voreiligen Entschluss, Venedig zu verlassen, wohl um seine innere Integrität zu wahren. Vielleicht auch, weil er ahnt, dass die Anbetung Tadzios schon bald ihren ideal-mythischen Charakter ver- lieren und ins homoerotisch-pädophile umschlagen wird. Die Zerrissenheit des Künstlers, dessen physischer Zustand seinem Aufenthalt in Venedig ein Ende zu setzen droht, gipfelt in Tränen, Unentschlossenheit, Verzweiflung, “er will es und will es nicht” (T 73). Ein Zufall nimmt Aschenbach schließlich die Entscheidung ab: sein Koffer wurde fehlgeleitet, unter solchen Umständen weigert er sich abzu- reisen (vgl. T 73f). Ab diesem Moment seiner Rückkehr, beginnt im Endeffekt Aschenbachs unaufhaltsamer Liebestaumel, er “blickt […] in sich hinein” (T 77)
(^9) Vgl. BALZER / MERTENS (Hg), a.a.O., 365f. (^10) K OTTOW , a.a.O., 233. (^11) S CHEDE , a.a.O., 28.
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und verfällt immer mehr der Verführung durch sein Lustobjekt, das er Tag und Nacht verfolgt. Er gibt sich dem “Rausch” (T 84) hin und verbringt “Nächte voll glücklicher Unruhe” (T 91), während derer er im Traum seine Sehnsüchte auslebt. Seine Verliebtheit artikuliert sich nunmehr massiv, seine unbefriedigten Triebe beherrschen ihn, nichts erinnert mehr an den moralischen Schriftsteller. Aschenbach steigert sich immer mehr in eine Besessenheit hinein, die ihn erken- nen lässt, dass sein Streben nach Perfektion ein für allemal beendet ist. Er malt sich die Reaktionen seiner sittlichen Vorfahren aus, wenn diese von seiner Verstrickung in derart unschickliche Ereignisse erführen:
Was würden sie sagen? Aber freilich, was hätten sie zu seinem ganzen Leben gesagt, das von dem ihren bis zur Entartung abgewichen war, zu diesem Leben im Banne der Kunst, über das er selbst einst, im Bürgersinne der Väter, so spöttische Jünglingserkenntnisse hatte verlauten lassen und das dem ihren im Grunde so ähnlich gewesen war! (T 105)
Aschenbach fühlt quasi die Loslösung aus seiner bisherigen gesellschaftlichen Rolle, er verneint sowohl das biedere Bürgertum als auch die leidvoll-einsame Existenz des Künstlers. An diesem Punkt angelangt, ist es somit angebracht, von der Auflösung bzw. Dekonstruktion der idealisierten Künstlerfigur zu sprechen. Erstmals realisiert der alternde Mann den Stellenwert des Eros, den er zuvor zur mit der Kunst unvereinbaren Kraft degradiert hatte: eben dieser Eros entspricht seinem Leben am ehesten (vgl. T 106), dient als Inspirationsquelle und Triebvehikel unterdrückter Sehnsüchte und Gelüste. Wie Stevenhagen schreibt: “Within Aschenbach rages an ancient conflict, the collision of West an East, of artistic form and substance, of Apollo and Dionysos. Aschenbach, the paragon of discipline, becomes in Venice a helpless slave of Eros, infected with the Dionysiac mania ”. 12 Aschenbachs innerer Konflikt wird nach und nach durch das Dionysische beherrscht, sein gesamtes Identitätskonstrukt bricht allmählich unter seiner Hingabe an die körperlichen Triebe zusammen, die seinen Geist dominieren. “Der Körper gibt sich der Sinnlichkeit, der Lust, der sexuellen Raserei hin”, 13 bis er komplett verfällt, und schließlich stirbt. Izenberg schreibt dazu passend: “Mann's fundamental understanding of love was Nitzschean, Dionysian: it was the quest for fusion with ground of being itself, which pursued to its end led either to failure or disaster”. 14 Aschenbachs lustvolle Enttarnung wird durch den jungen Tadzio initiiert, der eine Schlüsselfunktion innehält: er forciert den Selbstfindungsprozess des Künstlers, in dem er in ihm Gelüste und Triebe aufflammen lässt, die dessen bisher gesittetes Sexualverhalten entstellen.
(^12) S TEVENHAGEN , The Name Tadzio in Der Tod in Venedig , 22. (^13) K OTTOW, a.a.O., 236. (^14) I ZENBERG, Modernism and Masculinity, 105. (Hervorh. i. O.)
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“verbindungslose Erscheinung, mit flatterndem Haar” wandelt er “dort draußen im Meere, im Winde”. Eine Hand in der Hüfte, “in schöner Drehung zu seiner Grundpositur” (vgl. T 138f) blickt er über die Schulter zum Ufer. Fehlte nicht der Loreley-Felsen, wäre das Bild der Rheinnixe makellos. Aschenbach beobachtet seinen Geliebten und erfährt eine Vision: “Ihm war aber, als ob der bleiche und lie- bliche Psychagog dort draußen ihm lächle, ihm winke; als ob er, die Hand aus der Hüfte lösend hinausdeute, voranschwebe ins Verheißungsvoll- Ungeheure. Und wie so oft machte er sich auf, ihm zu folgen (T 139)”. Die imaginäre Vereinigung des Liebespaares bedeutet gleichzeitig auch den Endpunkt für Aschenbach Reise (im doppelten Sinne), zumal dieser im selben Augenblick stirbt. Die Verlockung bleibt jedoch bis zum Ende bestehen, steigert sich sogar noch und mündet in obiger irrealen Loreley-Szene. Tadzio erweist sich als Todesbote, der das alte Künstlergemüt ins Verderben lockt, als ein “homme fatal” nach klassischem Vorbild.
4. Träume und Projektionen als Raumschaffer sexueller Selbstfin- dungsprozesse
Thomas Manns Der Tod in Venedig enthält “Freudsche Motive und Ideen”. 18 Unübersehbar spiegelt die Novelle die Traumsymbolik und das Spiel zwischen Verdrängung und Ausleben wider. Freud unterteilt die Psyche des Menschen bekanntlich in das Es, Ich und das Über-Ich. Das Es enthält die Triebstruktur des Menschen, von Freud auch Libido genannt. Das Ich ist die Persönlichkeitsstruktur, das Über-Ich hingegen die Vernunftsinstanz. Die Sozialisation des Menschen in Form der Erziehung durch das Elternhaus und die Umwelt bewirkt, dass der Mensch nicht ungezügelt seinen Trieben folgen kann. Das Über-Ich wird somit gestärkt und das Ich , also die Persönlichkeit gefestigt. 19 Das Reich der Phantasie stellt einen Ersatz für die Triebbefriedigung dar, auf die der Mensch im wirklichen Leben verzichten muss. 20 Die verdrängten Phantasien, Sehnsüchte und Triebe schaffen sich ihren Raum somit auch im Traum. “Nach Freud enthält jeder Traum eine verborgene Wunscherfüllung”, 21 die oftmals lediglich in der Sphäre des Unbewussten lebt. 22 Auf den untersuchten Text bezogen, sticht Aschenbachs exzessiv-orgiastischer Traum ins Auge, der zweifellos tiefste Sehnsüchte reflek- tiert. Die Theorie des Unbewussten bringt die patriarchalische Architektur ins Wanken, 23 indem sie davon ausgeht, dass neben der gesellschaftskonformen, real-
(^18) M ICHAEL , Thomas Mann auf dem Wege zu Freud , 167. (^19) Vgl. N EUHAUS , Grundrisse der Literaturwissenschaft, darin Kapitel 9.11. Psychoanalytische Literaturwissenschaft. (^20) F REUD , “ Selbstdarstellung ”. Schriften zur Geschichte der Psychoanalyse , 91. (^21) N EUHAUS , a.a.O. (^22) Siehe zu den Begriffen Verdrängung und Unbewusstes auch FREUD , Das Ich und das Es , 61-104. (^23) Vgl. LINDHOFF , Einführung in die feministische Literaturtheorie, 61.
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ausgelebten Triebhaftigkeit des Menschen ein weiterer seelischer Ort existiert. Dieser “andere” Raum, als individuelle Seelenlandschaft, untersteht nicht den strengen gesellschaftlich-sozialen Tabus, die den Menschen in seinem Denken und Handeln einschränken. Homosexuelle Zuneigung, “intolerierbare” Altersunter- schiede, Pädophilie, alles besitzt Existenzberechtigung. Gustav von Aschenbachs Aufenthalt in Venedig wird von Beginn an als eine “träumerische Entfremdung” (T 35) bezeichnet, die ihn in nie erlebte Abenteuer reißt. Geografisch wie auch seelisch, als doppelter Ort, erlaubt Venedig dem Künstler, sich fernab seiner Heimat mit sich selbst auseinander zu setzen. Aschenbach blickt in sich hinein (T 77) und scheint einen Ort gefunden zu haben, an dem er seinen inneren Kampf, den Konflikt des apollinischen Autors mit dem dionysischen Liebhaber austragen kann. Er schwelgt in einer aufregenden Verzauberung durch den Knaben Tadzio, die in einer pädophilen Leidenschaft mündet. Sein Objekt der Begierde verkörpert für den ältlichen Mann nicht nur die vollkommene Schönheit, sondern auch seine verlorene Jugend. Besessen von dem Vierzehnjährigen dreht sich Aschenbachs gesamter Lebensinhalt nur noch um den reizenden Jüngling. Eines Nachts erlebt der Künstler zudem “einen furchtbaren Traum” (T 124), indem seine Leidenschaft, Lust und libidinöse Triebhaftigkeit zu einer außerordentlichen Orgie kumulieren. Aschenbach widerfährt der Traum als “körperhaft-geistiges Erlebnis” (ebd.), das sich in seiner Seele abspielt. Sein geis- tiger Widerstand, der im realen Leben zumindest ansatzweise vorhanden ist, wird im Traum komplett gebrochen. Eine besessene Herde von Menschen und Tieren partizipiert an einer “blutig-orgiastischen Feier”. 24 Weiber “mit stöhnend zurück- geworfenen Häuptern” (T 125) tragen “schreiend ihre Brüste in beiden Händen” (T 126), während Männer ihre Arme und Schenkel heben und wütend auf die Pauke schlagen. Auch Knaben sind in der obskuren Szenerie vertreten: sie lassen sich “jauchzend streifen” (T 126), “es herrscht Lust und Übermaß”, 25 es wird getanzt, die Glieder geschleudert, ein hinreißender Wahnsinn (ebd.) zieht den Träumenden in seinen Bann. Die Leiber keuchen, die Paukenschläge lassen sein Herz dröhnen und er gibt sich immer mehr der Verlockung hin: “Wut ergriff ihn, Verblendung, betäubende Wollust, und seine Seele begehrte, sich anzuschließen dem Reigen des Gottes” (T 127). Ein übergroßer Phallus (“das obszöne Symbol”) wird ähnlich einem Zepter empor gestreckt und löst eine rauschhafte Orgie aus. Die Masse tobt, reizt einander “mit geilen Gebärden und buhlenden Händen” (ebd.), sticht einander und leckt anschließend das Blut. Des Träumenden Seele “kostete Unzucht und Raserei des Untergangs” (ebd.). Aschenbach durchlebt in seinem Traum die absolute Aufgabe seines Widerstandes gegen die in ihm auf- flammende Körperlichkeit. Dionysos hat eindeutig gesiegt und den schwachen Künstler in das Reich der Gelüste und Triebe eingeweiht, während das Apollonische im Traumleben Aschenbachs völlig zerstört zu sein scheint. 26
(^24) S TELZMANN , a.a.O., 17. (^25) K OTTOW, a.a.O., 236. (^26) S TELZMANN , a.a.O., 20.
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Auch die Annahme, dass Tadzio überhaupt nicht existiert (keine körperliche Substanz aufweist), liegt nahe. Der Jüngling verkörpert schließlich einen Ort der Initiation, ein Ventil für Aschenbachs homosexuell-pädophile Triebhaftigkeit. Das Augenmerk liegt dabei auf der Entwicklung der Künstlerfigur und nicht auf dem Auslöser dieser. Freud schreibt in seinem Aufsatz Das Unheimliche über ein literarisches Motiv, dass er den “Doppelgänger” nennt. Damit meint er eine Figur, die als Spiegel- und Schattenbild und nicht zuletzt auch als Schutzgeist fungiert. Auch kann der “Doppelgänger” die Instanz der Selbstbeobachtung verkörpern oder auch das übrige Ich, das zum Objekt dieser Reflexion wird. Der “Doppelgänger” taucht dabei meist dann auf, wenn das Ich sich problematisch wird, weil es von Altem Abschied nehmen muss und sich Neues aneignen muss, also eine (Identitäts-)Krise durchläuft. 28 Passender könnte eine Interpretation kaum sein: Aschenbach proji- ziert seine Sehnsüchte, Agonien und Träume auf einen imaginären Doppelgänger, der ihm aus seinem Blickwinkel bei der Identitätsarbeit behilflich ist, indem er ihn zur Selbsterkenntnis hinführt.
5. Die Zweiteilung der Welt und deren allmähliche Auflösung
In Thomas Manns Novelle scheint ein ewiger Kampf zwischen polarisierenden Kräften zu wüten, den Aschenbach für sich austragen muss. Das entworfene Weltbild basiert auf Dichotomien, die einem traditionell patriarchalischen Wertesystem dienen, dem auch Aschenbach entspringt. Als Sohn eines höheren Justizbeamten und mit Vorfahren, die Offiziere, Richter und Verwal- tungsfunktionäre gewesen waren, alle im Dienste des Königs und des Staates (vgl. T 19), führt der Schriftsteller gleich seiner Verwandtschaft ein “anständig karges Leben” (ebd.). Sein Künstlertum ist “hart errungene Meisterschaft, Moralität der Leistung, ästhetisches Asketentum” 29 und äquivalent zu der Berufung, mittels sei- ner Schriften Moral und Sittlichkeit zu propagieren. Seine ihm väterlicherseits angeborene Zucht (vgl. T 22) findet sich somit auch in Aschenbachs Veröffentlichungen. Eine seiner Erzählungen handelt beispielsweise von der “Abkehr von allem moralischen Zweifelsinn, von jeder Sympathie mit dem Abgrund” (T 27). Erst nach Aschenbachs Begegnung mit Tadzio gerät seine beschauliche Welt allmählich ins Schwanken. Fernab jeglicher sittlichen Vorsätze wird sich der ältli- che Künstler immer mehr seiner körperlichen Schwäche bewusst. Obwohl er sich zumindest anfänglich mental gegen seine Veränderung sträubt, kann er seine Metamorphose nicht aufhalten. Er gibt sich seinem Verlangen hin, empfindet ers- tmals ein derart ununterdrückbares Begehren und widmet sich ganzheitlich seinem
(^28) ZIMMERMANN , Hermann Hesses Doppelgänger , 33f. (^29) WIEGMANN , Die Erzählungen Thomas Manns: Interpretationen und Realien, 190.
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Lustobjekt, dem vierzehnjährigen Tadzio. Damit eröffnet sich für Aschenbach eine unbekannte Welt der Triebhaftigkeit in seinem Wertesystem konträrer Gewalten.
Aschenbach partizipiert gleichermaßen an beiden Welten. Die erste ist die erstrebenswer- te, die moralisch korrekte, die jeden Tag im harten Kampfe wieder und wieder erstellt wird. Die zweite präsentiert sich als permanente Gefahr, als etwas immer wieder Vermiedenes und durch die erzwungene Absenz auch immer wieder Präsent- Gemachtes. 30
Thomas Manns dichotomisch konzipierte Welt operiert auch weiterhin mit Gegensatzpaaren, wie Körper/Geist, Rationalität/Irrationalität, Kultur/Natur, Männlich/Weiblich, Gesundheit/Krankheit und Disziplin/Kontrollverlust. 31 Aschenbachs apollinische Existenz wird durch den Einbruch des Dionysischen gefährdet. 32 Seine ratio gibt sich zunehmend der bislang unterdrückten Gefühlswelt hin, sein Körper zeigt immer deutlicher ein krankhaftes Erscheinungsbild, während er innerlich aufblüht. Fernab seiner altbekannten Arbeitsmoral bewundert und begehrt der Künstler den verführerischen Knaben, der seine Sinne in die ihm bisher verwehrte finstere Welt geleitet. Wie im Liebestaumel verfällt Aschenbach schließlich den “vulgären und schmachtenden Melodien” (T 109), die ihn bezirzen. Allmählich überschreitet er die Schwelle zwischen den beiden imaginären Welten und partizipiert an einer anderen Weltordnung, deren Existenz er bisher vehement geleugnet hatte. Unmögliches wird möglich, und Aschenbach immer mehr er selbst.
6. Pädophilie bei Thomas Mann
Thomas Mann gehört ohne Zweifel zu den meistinterpretierten, deutschspra- chigen Autoren der Moderne. Der Tod in Venedig wird oftmals “geradezu [als]die Epoche der Jahrhundertwende zusammenfassende Novelle” 33 bezeichnet. Das homosexuelle Begehren gegenüber dem Knaben Tadzio wird dabei jedoch nur kaum angesprochen oder als idealisierter, künstlerischer Ausdruck der Bewunderung beschönigend angemerkt, jedoch wird die pädophile Neigung Gustav von Aschenbachs nicht explizit thematisiert. Hermann Wiegmann äußert sich beispielsweise wie folgt über das Motiv der verbotenen Liebe im Werk: “Die homoerotische Zuneigung Aschenbach ist der 'zugespitzte' Fall existenzieller künstlerischer Problematik und in symbolischer Weise Ausdruck von Schönheit und Todverfallenheit menschlichen Vollkommenheitsstrebens […]” 34. Nun gut, es ist wohl nicht zu bestreiten, dass Thomas Mann _ beim Verfassen der Novelle vom
(^30) K OTTOW , a.a.O., 228. (^31) Ebd., 225. (^32) Vgl. VAGET , Thomas-Mann-Kommentar zu sämtlichen Werken, 180. (^33) M ETTENLEITER / KNÖBL , Blickfeld Deutsch, 368. (^34) WIEGMANN , a.a.O., 199f.
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möglich zu kommen. Sein Lebensinhalt besteht nunmehr nur noch aus dem Studium des Angebeteten, dessen Detailfreude an Obszönität grenzt:
Er [Tadzio] stand […] aufrecht, die Hände im Nacken verschlungen, langsam sich auf den Fußballen schaukelnd, und träumte ins Blaue, während kleine Wellen, die anliefen, seine Zehen badeten. Sein honigfarbenes Haar schmiegte sich in Ringeln an die Schläfen und in den Nacken, die Sonne erleuchtete den Flaum des oberen Rückgrats, die feine Zeichnung der Rippen, das Gleichmaß der Brust traten durch die knappe Umhüllung des Rumpfes hervor, seine Achselhöhlen waren noch glatt wie bei einer Statue, seine Kniekehlen glänzten, und ihr bläuliches Geäder ließ seinen Körper wie aus klarem Stoffe gebildet erscheinen. Welch eine Zucht, welch Präzision des Gedankens war ausgedrückt in diesem gestreckten und jugendlich vollkommenen Leibe (T 82f)!
Wäre es nun in der Tat übertrieben, von Aschenbachs homosexueller Neigung zu sprechen? Der Text antwortet von selbst: Aschenbach verzweifelt an der “Aussichtslosigkeit seines Trachtens, die holden Lippen seines Schattens zu küs- sen” (T 96). Dabei kann es sich wohl nunmehr unmöglich um platonische homoe- rotische Gedanken und Gefühle handeln. Wenn der Mittfünfziger die Lust vers- pürt, einen Vierzehnjährigen auf den Mund zu küssen, so kann dies bei einer Textanalyse unmöglich übersehen werden. Wo liegt die Grenze zwischen harmlo- ser Bewunderung eines jungen Leibes und konsequenter Pädophilie? Eine Frage, die sich von selbst beantwortet, wenn der Rezipient folgende Passage, in der die Grenze eindeutig überschritten wird, aufmerksam liest:
Sonderbar entrüstete und zärtliche Vermahnungen entrangen sich ihm: “Du darfst nicht so lächeln! Höre, man darf so niemandem lächeln!” Er warf sich auf eine Bank, er atmete außer sich den nächtlichen Duft der Pflanzen. Und zurückgelehnt, mit hängenden Armen, überwältigt und mehrfach von Schauern überlaufen, flüsterte er die stehende Formel der Sehnsucht, - unmöglich hier, absurd, verworfen, lächerlich und heilig doch, ehrwürdig auch hier noch: “Ich liebe dich” (T 97)!
Diese Szene kann nur als verbaler Orgasmus entlarvt werden. Aschenbach ist derart von Lust erfüllt, dass er es gerade noch schafft, sich auf eine Bank “zu wer- fen”. Das gesamte lexikalische Umfeld obiger Passage verrät Aschenbachs lei- denschaftlichen Höhepunkt. Sein rasender Atem zusammen mit seinen daraufhin hinab hängenden Armen, seine Überwältigung und nicht zuletzt, die Schauer, die ihn überlaufen, kreieren eine spannungsgeladene Atmosphäre voller Pathos und sexueller Triebhaftigkeit. Verräterisch erscheint auch Aschenbachs Gedanke: “unmöglich hier”, der bald darauf negiert wird: “ehrwürdig auch hier noch”. Es erscheint ihm zunächst als unerhört, seine Erektion auf einer Parkbank zu erleben, dann jedoch besinnt er sich wohl darauf, dass Eros überall sein kann. Für ihn ist Sexualität darüber hinaus stets mit Gefühlen verbunden. Sein Orgasmus soll nicht als vulgäre Ausschreitung gewertet werden, denn seine Motive sind die eines Liebenden. Aschenbachs Beziehung zu Tadzio erhält zunehmend sexuelle Konnotationen, profan ist nunmehr die körperliche Dimension des Pathos, das der Künstler empfindet. Er kann sich Tadzios magischer Anziehungskraft nicht entzie- hen, stellt diesem ständig nach, lauert sogar vor dessen Zimmertür. Sein Verhalten weist dabei nichts Aufdringliches auf, er begnügt sich mit einer distanzierten
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Befriedigung. Dabei muss auch Aschenbachs voyeuristische Veranlagung betont werden, die schon in obig geschilderten Beobachtungen zum Ausdruck gekommen ist. Der Künstler scheint sich größtenteils durch Tadzios Anblick zu befriedigen, denn seine Erektion wurde durch Tadzios Lächeln ausgelöst. Bis zu seinem Tod träumt Aschenbach von der körperlichen Vereinigung mit Tadzio. Der Alternde wird zunehmend von einer ungewohnt-hitzigen Leidenschaft überwältigt, seine körperliche Schwäche wirkt jedoch seinem sexuellen Begehren entgegen. Innerlich steht er in Flammen, muss sich sogar die Lippen abkühlen (vgl. T 109), während er das Liebesspiel zwischen ihm und Tadzio bis an die Grenzen der Erkenntlichkeit treibt: “es war dahin gekommen, dass der Verliebte fürchten muss- te, auffällig geworden und beargwöhnt zu sein” (T 111). Seine pädophilen, homo- sexuellen Phantasien kann Aschenbach trotz seiner inneren Befreiung nicht frei ausleben. Daher entfalten sich seine intimsten Sehnsüchte und Triebe in einem “furchtbaren Traum” (T 124), indem eine wilde Sexorgie zwischen Männern, Frauen und Knaben (!) im Rauschzustand stattfindet. Der Phallus als Aschenbachs Lustobjekt ist selbstverständlich auch vertreten, und dies sogar in Übergröße (vgl. T 124-127). Er wähnt sich hoffnungslos dem Dämon verfallen und sein Gesundheitszustand verschlechtert sich aufgrund seiner Infizierung mit Cholera zunehmend, so dass er sich allmählich dem Tod nähert. In der Schlussszene des Werkes erlebt er eine Vision mit seinem Liebsten, der ihn scheinbar ins “Verheißungsvoll-Ungeheure” (T 139) einlädt. Möglicherweise realisiert Aschenbach kurz vor seinem Tod, dass er sein Objekt des Begehrens in diesem Leben nicht mehr erobern wird. Seine Sehnsucht nach Tadzios jugendlichem Körper kann er womöglich nur in einer anderen Sphäre stillen, einer anderen Dimension, einem anderen Raum. Es ist ihm nicht mehr vergönnt, seine Pädophilie zu realisieren. Er entschwebt dieser Welt in der Hoffnung, an einem anderen Ort Erfüllung zu erfahren.
7. Die Androgynität als Möglichkeit der Identitätsfindung
Die Begriffe ‘Frau’ und ‘Mann’ benennen “zwei soziale Rollenmuster, die in allen Gesellschaftsformen auch essentialistische Kategorien markieren, da davon ausgegangen wird, dass sie einen jeweiligen Wesenskern bezeichnen, der das wei- bliche bzw. männliche Subjekt konstituiert”. 36 Wo jedoch liegt die Essenz, wenn Männer weiblich dargestellt und Frauen maskulin stilisiert werden? Im Zuge der feministischen Literaturwissenschaft ist eindeutig bewiesen worden, dass die Geschlechterrollen stets performative Akte darstellen, die somit keinesfalls als fes- tgeschriebene Zwangsverhaltensweisen und Artikulationen interpretiert werden dürfen. Die Definition eines Individuums als Frau oder Mann oder homosexuell bzw. heterosexuell führt zu der Behauptung, der Begriff der Geschlechtsidentität sei dem der Identität unterzuordnen. Die Schlussfolgerung, dass also eine Person
(^36) K ROLL (Hg.), Gender Studies. Geschlechterforschung, 116.
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dekonstruiert zugleich tief wurzelnde Geschlechterstereotype. Aschenbach, der talentierte, erfolgreiche Künstler, dessen Erziehung konservativer nicht hätte sein können, leiht sich beispielsweise feminin konnotierte Gewohnheiten, wie Schminken, Frisieren usw., um seinem Geliebten zu gefallen. Es werden jedoch nicht nur die Geschlechterrollen aufgelöst, sondern jegliche starren, festgeschrie- benen Gesetzmäßigkeiten annulliert, denn “im Mittelpunkt der Dekonstruktion steht der Begriff der Strukturalität, d.h. das Denken von Strukturen” 42 im Allgemeinen. Dabei erhebt die literarische Verarbeitung der Figur Aschenbachs keineswegs einen Anspruch auf Wahrheit, zumal literarische Texte stets nur mit Imaginationen von Weiblichkeit und Männlichkeit arbeiten. Ziel ist es, die Konstruktion der biologischen und sozialen Geschlechtlichkeit aufzuzeigen und diese zu hinterfragen. 43 Die Androgynität als Oszillieren zwischen den Rollen führt nicht zuletzt auch zum Rollentausch, der fachterminologisch mit gender trou- ble beschrieben wird.
8. Der Mann als Zwitterwesen
Das “westliche” kulturelle Verständnis von Geschlecht beschränkt sich auf die Trennung zwischen Mann und Frau, männlich und weiblich. Somit ist jeder Mensch entweder Mann oder Frau und wer zufällig nicht in dieses dichotomische Schema passt, wird eben als anomal oder als “Ausrutscher” der Natur gewertet. Diese Denkart kann dem modernen Subjekt jedoch keineswegs gerecht werden. Die Vielfältigkeit an Ausdrucksformen und Erscheinungsbildern demonstriert das Ungenügen einer derartigen Dichotomisierung. Nur wenn wir uns vergegenwärti- gen, dass es bei den Geschlechtern und deren Identität um kulturell und gesells- chaftlich inszenierte Konstrukte handelt, kann der Begriff der Identität radikal neu gedacht oder sogar eventuell gänzlich aufgegeben werden. 44 Die Geschlechtsidentität (gender) ist wie auch die Identität eines Menschen - zumal das eine ohne das andere nicht zu denken wäre - ein performativer Akt. 45 Es han- delt sich also um “eine Art Werden oder Tätigkeit, die nicht als Substanz oder als substantielles Ding oder als statische kulturelle Markierung aufgefasst werden darf”. 46 Somit liegt der Gedanke nahe, dass ein männliches oder auch ein weibli- ches Kind sich erst allmählich, im Lauf seiner Entwicklung, ein Geschlechtsbewusstsein aneignet, das schließlich zu der Realisierung eines Konzeptes von Geschlechtsidentität führt. Demnach gibt es nicht nur zwei Konzepte _ weiblich und männlich _, sondern zig-fache Möglichkeiten, wie es
(^42) Ebd., 61. (^43) Vgl. BAASNER / ZENS , Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft. Eine Einführung , 161. (^44) K ROLL (Hg), a.a.O., 146. (^45) An dieser Stelle sei erwähnt, dass der neueste Geschlechterdiskurs davon ausgeht, dass selbst das biologische Geschlecht des Menschen (sex) größtenteils ein gesellschaftliches Konstrukt darstellt. (^46) BUTLER , a.a.O., 167.
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auch unzählige verschiedene Menschen gibt. Demnach sind auch keine natürlichen Kategorien vorhanden, in die Menschen eingeordnet werden können. Männlichkeit und Weiblichkeit erscheinen viel mehr als unabhängige, potentielle Wesensmerkmale eines jeden Menschen und finden jeweils in individueller Kombination Ausdruck. “Es gibt keinen Grund, die menschlichen Körper in das männliche und in das weibliche Geschlecht aufzuteilen; außer diese Aufteilung passt zu den ökonomischen Bedürfnissen der Heterosexualität und verleiht der Institution der Heterosexualität einen naturalistischen Glanz”. 47 Doch auch die Heterosexualität als “normale” oder zumindest “normative” Form der Sexualität erscheint nach einem genaueren Blick auf unsere Gesellschaft eher als eine bequeme Vereinfachung, die kaum etwas mit den realen Neigungen und Sehnsüchten vieler Menschen gemein hat. Es geht somit um eine allgemeine Hinterfragung jeglicher Essenz, die sich hinter dem dichotomischen Denken und der Klassifizierung von Geschlecht und Sexualität verbirgt. Thomas Manns Der Tod in Venedig liefert Antworten und alternative Möglichkeiten im Hinblick auf den Geschlechterdiskurs. Auffällig ist die Stilisierung einer homoerotischen Liebe im literarischen Text. Die Heterosexualität als gängige Ausdrucksform sexuellen Begehrens wird somit auto- matisch hinterfragt. Anhand der Person Aschenbachs thematisiert Mann eine pädo- phile Zuneigung zu dem Jungen Tadzio, die jegliche gesellschaftlichen Tabus in Frage stellt und diese auch noch vehementer brechen würde, wenn es nun wirklich zu einem Koitus zwischen Jungen und Mann käme. Das sexuelle Begehren ers- cheint als eine tief verwurzelte Triebkraft im Menschen, die zwar unterdrückt wer- den kann, sich jedoch wohl irgendwann ihren Weg an die Oberfläche des Bewusstseins bahnen wird. Auch Aschenbach lebt bis zu seinem fünfzigsten Lebensjahr gesellschaftlich äußerst konform und ohne jemals gegen das Sittengesetz verstoßen zu haben. Dennoch initiiert sich für ihn ganz unverhofft das Erwachen seiner Gefühle für den hübschen Knaben. Räume spielen als seelische Orte des Auslebens intimer Sehnsüchte und Wüsche eine bedeutende Rolle. Ähn- lich einer Sitzung beim Psychotherapeuten verhilft das Durchleben tiefster Gedanken und Gefühle zu deren Verarbeitung und folglich zu einem ausgegliche- neren Dasein. Die Verachtung bestimmter Illusionen und Wunschträume als uner- hört oder unmoralisch kann diese keineswegs annullieren und führt lediglich zur Stärkung des Verdrängungsmechanismus, der irgendwann jegliche Phantasien unkontrollierbar (wie im Falle Aschenbachs) ausbrechen lassen wird. Männlichkeit als Faktum wird in der Novelle hinterfragt und schließlich dekonstruiert. Anfänglich andeutungsweise und schließlich offensichtlich besitzt der Mensch Aschenbach sowohl maskuline als auch feminine Anlagen. Vielleicht hätte er schon viel früher damit begonnen, sich zu schminken und zu frisieren, wenn er sich nicht derart den gesellschaftlichen Zwängen unterworfen hätte. Womöglich verspürte der Künstler schon lange das Verlangen nach einem gleich- geschlechtlichen Partner, oder vielleicht konnte er sich zeitlebens unbewusst an
(^47) Ebd.,167f.