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Vortrag von Albrecht Ritschl Humboldt-Universität zu Berlin
Art: Leitfäden, Projektarbeiten und Recherchen
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Im März 1929 erschien im Deutschen Volkswirt, damals dem Fachblatt der liberalen Ökonomie in Deutschland, ein Artikel von Joseph Schumpeter über die „Grenzen der Lohnpolitik“. In diesem Beitrag führte Schumpeter aus, Deutschland befände sich wegen seiner hohen Lohnkosten und seiner Sozialpolitik bereits mitten in einer De- pression, und er empfahl als Rezeptur eine Mischung von Lohn-, Preis und Budget- kürzungen, recht genau das, was später als Brünings Deflationspolitik bekannt gewor- den ist 1. Drei Jahre später, im Februar 1932, schrieb Schumpeter erneut im Deutschen Volkswirt, diesmal zum Thema „Weltkrise und Finanzpolitik“. Er legte dar, daß man jetzt noch nicht an leichteren Kredit denken könnte. Wegen der Reparationen müsse man zunächst erst noch weiter deflationieren, um danach „das Steuer radikal herum- zuwerfen“ und zu einer Kreditexpansion zu kommen. Schumpeters nunmehrige Re- zeptur war recht genau das, was später als produktive Kreditschöpfung bekannt ge- worden ist 2.
(^1) J.A. Schumpeter, “Grenzen der Lohnpolitik.”, Der deutsche Volkswirt 3 Nr. 26 (18.03.1929) (1929),
2 S. 847-851. J.A. Schumpeter, “Weltkrise und Finanzpolitik.”, Der deutsche Volkswirt 6 Nr. 23 (1932), S. 739-
Schumpeters zwei Aufsätze sind im Kern nicht anderes als die sogenannte Borchardt-These. Wie die Borchardt-These hat auch die Schumpeter-These zwei Tei- le. Der erste Teil ist eine Kritik der Sozial- und Lohnpolitik vor der Weltwirtschafts- krise und gibt drastische Politikempfehlungen. Der zweite ist eine Verteidigung der Sparpolitik während der Krise und verspricht baldige Besserung. Damals haben sol- che Ansichten kaum zu Kontroversen geführt, zunächst jedenfalls nicht. Die Deflati- onspolitik wurde knurrend, aber mit inhaltlicher Überzeugung von allen halbwegs staatstragenden Parteien der Weimarer Republik gestützt. Sie begann nicht mit Hein- rich Brüning, sondern fast ein Jahr zuvor, und sie endete nicht mit Heinrich Brüning, sondern fast ein Jahr danach. Man hat mit Recht von einem Deflationskonsens ge- sprochen. Woher dieser Konsens? Wie kommt es, daß Schumpeter diese Auffassungen vertrat? Warum empfahl er zuerst Deflation, später noch etwas mehr Deflation und danach einen radikalen Kurswechsel? Und was ist die Verbindung zur Borchardt- These? In einem 1979 veröffentlichten Festvortrag vor der Bayerischen Akademie der Wissenschaften vertrat Knut Borchardt die These, daß Brünings Deflationspolitik nicht das Ergebnis falscher Analyse oder finsterer Absichten gewesen sei, sondern die einzig mögliche Antwort auf ein Schuldenproblem der öffentlichen Haushalte. Die Regierung Brüning befand sich in einer Zwangslage. Dieses Schuldenproblem, so Borchardt, wurde verschlimmert und vertieft durch eine zu großzügige Lohn- und So- zialpolitik der Weimarer Republik vor 1929^3. Borchardts von ihm selbst so bezeichnete Revision des überlieferten Geschichts- bilds rührte an einen Grundkonsens. Der englische Nationalökonom John Maynard Keynes hatte in den dreißiger Jahren eine intellektuelle Revolution eingeleitet, die die Grundlagen der herrschenden Konjunkturlehren auf den Kopf stellte: Nicht Sparen, sondern Geldausgeben wurde zur Devise für die öffentlichen Kassen in der Krise, und
tistik 197 (1982), S. 359-370; sowie K. Borchardt und O. Schötz, Wirtschaftspolitik in der Krise. Die (Geheim-) Konferenz der Friedrich-List- Gesellschaft im September 1931 über die Möglichkeit und Folgen einer Kreditausweitung, Baden-Baden 1987. Eine einflußreiche Dokumentensammlung und Dokumentation der frühkeynesianischen Arbeiten in Deutschland ist G. Bombach u.a., Der Keynesianismus, Berlin 1976. Ähnlich G. Garvy, “Keynes and the Economic Activists of pre-Hitler 3 Germany.”,^ Journal of Political Economy^ 83 (1975), S. 391-405. K. Borchardt, “Zwangslagen und Handlungsspielräume in der großen Wirtschaftskrise der frühen dreissiger Jahre”, Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (1979), S. 85-132. Ähn- lich K. Borchardt , “Wirtschaftliche Ursachen des Scheiterns der Weimarer Republik.” in: Weimar, Selbstpreisgabe einer Demokratie: Eine Bilanz heute , hrsg. von K.-D. Erdmann und H. Schulze, Düsseldorf 1980, S. 211-249.
lehre, das sich in jedem Lehrbuch der sechziger und siebziger Jahre findet, daß bei richtigem Zusammenwirken von Geldpolitik und Fiskalpolitik keine Knappheit des öffentlichen Kredits und auch keine Deflation auftreten wird: Der öffentliche Kredit finanziert sich bei richtig dosierter Ausweitung der Geldmenge gleichsam von selbst. Eine Zwangslage des öffentlichen Kredits in der Weltwirtschaftskrise konnte also nur auftreten, wenn diese Grundgegebenheit nicht berücksichtigt wurde, mithin wenn die Politik einen groben Anfängerfehler beging^7. Rasch wurde in der beginnenden Debatte ein tagespolitischer Zusammenhang sichtbar, der für einige Zeit in den Vordergrund trat. Am Ende der siebziger Jahre stritt der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, bekannt als die Fünf Weisen, gegen Defizite in den öffentlichen Haushalten und hohe Lohnkosten und entwickelte das Konzept der kumulierten Reallohnposition, ein Maß für die Bewegung der Lohnstückkosten^8. Borchardt verwendete diese Ziffern^9. Sein Aufsatz zeigte eine Übersicht zu den Lohnkosten, in der die Weimarer Republik im langfristigen Vergleich sehr ungünstig herauskam – genauso ungünstig wie die Bun- desrepublik der späten siebziger Jahre. Für manche Kritiker war damit der Kontext klar: Borchardts Aufsatz war offen- sichtlich ein Beitrag zur politischen Debatte. Seine neue Interpretation der Krise schien von der zugrundegelegten Angebotstheorie abzuhängen. In einem Zeitungs- artikel stellte Borchardt den tagespolitischen Zusammenhang selbst explizit her^10. Hier stand der Zusammenhang zwischen hohen Lohnkosten und einer Investitionsschwä- che Weimars im Vordergrund. Ganz ähnlich hatte der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsminister unter Mitwirkung Borchardts in einem kurz zuvor erschie-
(^7) Zentrale Fundorte zum weiteren Verlauf sind H.G. James, “Gab es eine Alternative zur Wirtschafts- politik Brünings?”, Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 70 (1983), S. 523-541, sowie K. Borchardt, “Noch einmal: Alternativen zu Brünings Wirtschaftspolitik?”, Historische Zeit- schrift 237 (1983), S. 67-83; die Beiträge der Kontrahenten in J.v. Kruedener (Hrsg.), Economic Crisis and Political Collapse: The Weimar Republic, 1924-1933, Oxford 1990; sowie der Rückblick 8 auf die Debatte bei C.-L. Holtfrerich, “Zur Debatte um die deutsche Wirtschaftspolitik ... ”. Besonders: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahres- gutachten 1978/9, "Wachstum und Währung", Stuttgart 1978. Eine zeitgenössische kritische Diskus- sion der damaligen Konzepte des Sachverständigenrats aus keynesianischer Sicht gibt W. Meissner, Die Lehre der Fünf Weisen. Eine Auseinandersetzung mit den Jahresgutachten des Sachverständi- 9 genrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung,^ Köln 1980. K. Borchardt, “Zwangslagen und Handlungsspielräume ... ” entnahm seine Zeitreihe der kumulier- ten Reallohnposition von H. Glismann, et al., “Zur Natur der Wachstumsschwäche in der Bundesre- publik Deutschland. Eine empirische Analyse langer Zyklen wirtschaftlicher Entwicklung.”, Kieler Diskussionsbeiträge Nr. 55 (1978), einer im Kieler Weltwirtschaftlichen Institut entstandenen Lang- 10 zeitstudie, deren Ziel die empirische Überprüfung der Meßkonzepte des Sachverständigenrats war. K. Borchardt, “Die Deutsche Katastrophe. Wirtschaftshistorische Anmerkungen zum 30. Januar 1933”, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung , 29.1.1983.
nenen Gutachten einen Zusammenhang zwischen hohen Lohnkosten, den Verdrän- gungseffekten der hohen öffentlichen Haushaltsdefizite und der Investitionsschwäche der siebziger Jahre betont^11. So konnte es naheliegen, den tagespolitischen Kontext der Borchardt-These stärker zu diskutieren als das Argument selbst. Das ist in der nachfolgenden hitzigen Debatte auch wirklich so geschehen. Manche Beiträge brandmarkten Borchardts Ansatz als „neokonservativ“ und versuchten, ihn als Versuch zur Apologie einer Umverteilung von unten nach oben zu delegitimieren^12. Besonnene Kritiker wiesen kritisch auf die angebotstheoretische Einkleidung des Arguments hin, versuchten allerdings den Nachweis, daß Borchardts These auch dann nicht richtig sei, wenn die angebotstheo- retische Deutung zuträfe. In einem zentralen Aufsatz hielt Holtfrerich der Borchardt- These entgegen, daß die Lohnkosten in der Weimarer Zeit bei richtiger Berechnung nicht höher gelegen hätten als 1913^13. Einige Jahre zuvor hatte Kocka argumentiert, daß die Kriegswirtschaft der Ersten Weltkriegs eine Umverteilung von unten nach oben mit sich gebracht hätte^14. Die von Borchardt konstatierte Umverteilung von oben nach unten vor 1929 wäre demnach wenig mehr als eine späte Korrektur dieses Vor- gangs. Holtfrerichs Arbeit argumentierte mit anderen Daten zu Sozialprodukt und Indu- strieproduktion als den von Borchardt verwendeten. Das hat eine ganze Anzahl von Autoren auf den Plan gerufen, die sich um eine Nachberechnung mit weiteren Daten- korrekturen bemüht haben. v. Kruedener wies darauf hin, daß auch Holtfrerichs Zah- len eine starke Umverteilungstendenz während der zwanziger Jahre selbst belegen, wenn auch nicht relativ zum Vorkriegsstand^15. In einem Vergleich der verschiedenen
(^11) Wissenschaftlicher Beirat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Konjunktur- 12 politik neu betrachtet,^ Bonn 1982. Beißende Polemiken in dieser Richtung bei C.-D. Krohn, “'Ökonomische Zwangslagen' und das Scheitern der Weimarer Republik. Zu Knut Borchardts Analyse der deutschen Wirtschaft in den zwanziger Jahren”, Geschichte und Gesellschaft 8 (1982), S. 415-26; H. Köhler, “Knut Borchardts 'Revision des überlieferten Geschichtsbilds' der Wirtschaftspolitik in der Großen Krise - Eine Zwangsvorstellung?”, Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der Arbei- terbewegung 19 (1983), S. 164-80. Vgl. die scharfe Replik von K. Borchardt, “Zum Scheitern eines produktiven Diskurses über das Scheitern der Weimarer Republik: Replik auf Claus-Dieter Krohns 13 Diskussionsbemerkungen”,^ Geschichte und Gesellschaft^ 9 (1983), S. 124-137. C.-L. Holtfrerich, “Zu hohe Löhne in der Weimarer Republik? Bemerkungen zur Borchardt-These.”, 14^ Geschichte und Gesellschaft^ 10 (1984), S. 122-141. 15 J. Kocka,^ Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914-1918,^ Göttingen 1978. J.v. Kruedener, “Die Überforderung der Weimarer Republik als Sozialstaat”, Geschichte und Ge- sellschaft 11 (1985), S. 358-376. Ähnliche Ergebnisse erhält D. Corbett, “Unemployment in Inter- war Germany, 1924-1938.” (Diss.), Harvard University, Cambridge 1991, in einer zu wenig beach- teten Untersuchung über den Arbeitsmarkt in der Weimarer Republik.
zialprodukt 19. Wir müssen also vermuten, daß auch andere Gründe mitgewirkt haben, denn die Angebotsbedingungen waren in Deutschland dieselben wie in England, der Krisenverlauf aber war völlig unterschiedlich. Borchardts Ansatz lief darauf hinaus, die Krise der Weimarer Wirtschaft als Folge eines Verteilungskampfes zwischen Kapital und Arbeit zu sehen. Die Diskussion zur Konjunkturpolitik der Brüning-Zeit ist diesem Erklärungsangebot weitgehend gefolgt. Auch den Kritikern, gerade den vehementesten, erscheint die Krise nun als Ver- teilungskonflikt. Dann wäre die Brüningsche Sparpolitik als Instrumentalisierungs- strategie zur Umverteilung von unten nach oben entlarvt 20. Damit ist allerdings der internationale Verteilungskonflikt zwischen Deutschland, seinen Reparationsgläubigern und seinen kommerziellen Kreditgebern ausgeblebndet worden. Das ist problematisch, denn noch heute besagt die populärste Deutung der Brüningschen Sparpolitik, sie habe in einer bewußte Obstruktion der deutschen Repa- rationen bestanden^21. Danach hat Brüning kaltblütig deflationiert und mit Absicht die
(^19) Hierzu im Detail S.N. Broadberry und A. Ritschl , “The Iron Twenties: Wages, Productivity, and the Lack of Prosperity in Britain and Germany before the Great Depression.” in: Zerrissene Zwischen- kriegszeit, Festschrift Knut Borchardt , hrsg. von C. Buchheim, M. Hutter und H. James, Baden- 20 Baden 1994, S. 15-43. Vgl. hierzu C.-L. Holtfrerich, “Alternativen zu Brünings Politik ...?”; sowie H. Hagemann , “Lohn- senkungen als Mittel der Krisenbekämpfung? Überlegungen zum Beitrag der 'Kieler Schule' in der beschäftigungspolitischen Diskussion am Ende der Weimarer Republik.” in: Beschäftigung, Vertei- lung und Konjunktur. Festschrift Adolph Lowe , hrsg. von H. Hagemann und H.D. Kurz, Bremen 1984, S. 97-129, und besonders B. Weisbrod, “Die Befreiung von den 'Tariffesseln', Deflationspoli- tik als Krisenstrategie der Unternehmer in der Ära Brüning.”, Geschichte und Gesellschaft 11 (1985), S. 295-325. Umgekehrt ist in der Literatur untersucht worden, ob die staatliche Lohnschlich- tung in der Weimarer Zeit vor der Krise die Gewerkschaften einseitig begünstigt hat oder nicht. Hierzu mit abweichenden Standpunkten J. Bähr, Staatliche Schlichtung in der Weimarer Republik, Berlin 1989; sowie K. Borchardt und C. Zahn, “Zur Geschichte gewerkschaftlicher Lohnforderun- gen in den mittleren und späten Jahren der Weimarer Republik”, Volkswirtschaftliche Fakultät der Universität München (1990), Discussion Paper Nr. 90-33. In der deutschen Diskussion zu wenig rezipiert: J. Svejnar, “Relative Wage Effects of Unions, Dictatorship and Codetermination: Econo- 21 metric Ecidence from Germany.”,^ Review of Economics and Statistics^ 63 (1981), S. 188-197. Vgl. etwa H. Sanmann, “Daten und Alternativen ... ”, H. Köhler, “Arbeitsbeschaffung, Siedlung und Reparationen in der Schlußphase der Regierung Brüning.”, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 17 (1969), S. 276-307, H. Mommsen, “Heinrich Brünings Politik als Reichskanzler: Das Scheitern ei- nes politischen Alleinganges.” in: Wirtschafskrise und liberale Demokratie. Das Ende der Weimarer Republik und die gegenwärtige Situation , hrsg. von K. Holl, Göttingen 1978, S. 16-45, W. Joch- mann , “Brünings Deflationspolitik ... ”; W. Glashagen, Die Reparationspolitik Heinrich Brünings 1930-1931, (Diss.), Bonn 1980; G. Schulz, “Reparationen und Krisenprobleme nach dem Wahlsieg der NSDAP 1930. Betrachtungen zur Regierung Brüning.”, Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirt- schaftsgeschichte 67 (1980), S. 200-222. Abwägend P. Krüger, “Das Reparationsproblem der Wei- marer Republik in fragwürdiger Sicht. Kritische Überlegungen zur neuesten Forschung.”, Viertel- jahreshefte für Zeitgeschichte 29 (1981), S. 21-47; P. Krüger, Die Außenpolitik der Republik von Weimar, Darmstadt 1985.
Krise verschärft, um den Young-Plan zu vereiteln. Neuerdings hat Hermann Graml diese Sichtweise wieder vorgetragen^22. Allerdings ist diese Interpretation nicht mehr auf dem neuesten Stand. Durch neue- re Arbeiten zum Reparationsproblem, zum deutsch-französischen Verhältnis in der Krise und vor allem zur Politik und Ökonomie der amerikanischen Kreditvergabe an Deutschland hat sich unsere Wissensbasis gegenüber der Zeit der Borchardt-Debatte ganz wesentlich verbreitert 23. Danach wird man die vielen Hinweise auf die Reparati- onsthematik in Brünings Politik sehr ernst nehmen müssen, allerdings mit ganz ande- ren Schlußfolgerungen als bisher, die nicht in Richtung einer Obstruktion gehen^24. Eine Obstruktionsthese der Reparationen unter Brüning müßte plausible Antworten auf die Frage bereithalten, warum nicht schon nach der Stabilisierung der Mark 1924 eine ähnliche Politik betrieben wurde, ganz nach der Überzeugung mancher Entschei- dungsträger, die beste Methode zur Vereitelung der Reparationsabkommen sei der Versuch ihrer Erfüllung. Die wechselnden Reparationsregimes in Deutschland ent- schieden über die Größe des im heimischen Verteilungskonflikt zu verteilenden Ku- chens. Womöglich besteht ein Zusammenhang zwischen dem internationalen Konflikt um die deutschen Reparationen und dem heimischen Konflikt zwischen Arbeit und Kapital, die beide nach Art eines Nullsummenspiels ausgetragen wurden und einen wachstumspolitischen Konsens wie in der Nachkriegszeit verhindert haben. Für die Auseinandersetzungen der Zeitgenossen hat das Reparationsthema fraglos ein Leitmo- tiv dargestellt und die Handlungsspielräume und Zwangslagen der deutschen Wirt- schaftspolitik in der Zwischenkriegszeit dramatisch mitbestimmt^25.
(^22) H. Graml, Zwischen Stresemann und Hitler, München 2001. (^23) Vgl. besonders K. Wurm , “Frankreich, die Reparationen und die interalliierten Schulden in der 20er Jahren” in: Die Nachwirkungen der Inflation auf die deutsche Geschichte 1924-1933 , hrsg. von G. Feldman, München 1985, S. 315-334, F. Knipping, Deutschland, Frankreich und das Ende der Lo- carno-Ära, München 1987, S. Schuker, American Reparations to Germany, 1924-1933, Princeton 1988, S. Schirmann, Les relations économiques et financières franco-allemandes: 24 décembre 1932-1er septembre 1939, Paris 1995, P. Heyde, Das Ende der Reparationen. Deutschland, Frank- reich und der Youngplan 1929-1932, Paderborn 1998, M. Wala, Weimar und Amerika. Botschafter Friedrich von Pittwitz und Graffon und die deutsch-amerikanischen Beziehungen von 1927 bis 24 1933,^ Stuttgart 2001. So zuerst W. Helbich, Die Reparationen in der Ära Brüning: Zur Bedeutung des Young-Plans für die deutsche Politik 1930 bis 1932, Berlin 1962; dessen Position gelegentlich zu Unrecht für eine Obstruktionsthese in Anspruch genommen worden ist. Hierzu Glashagen, Reparationspolitik. Zum folgenden Argumentationsgang ausführlicher: A. Ritschl, Deutschlands Krise und Konjunktur, 1924-1934. Binnenkonjunktur, Auslandsverschuldung und Reparationsproblem zwischen Dawes- 25 Plan und Transfersperre,^ Berlin 2002. Erinnert sei an die Auseinandersetzungen um die Geldpolitik Schachts im Angesicht des Dawes- Plans sowie die Polemik um die Annahme des Young-Plans und Schachts Rücktritt im Spätwinter 1930: A. Weber, Hat Schacht recht? Die Abhängigkeit der deutschen Volkswirtschaft vom Ausland,
Folge davon wurden die Reparationen zwar geleistet – Devisenklemmen traten wegen des reichlichen Angebots von Auslandskrediten nicht auf –, aber nicht aus echten Überschüssen des Außenhandels. Diese Reparationszahlung auf Kredit hat Deutsch- land während der späten 20er Jahre eine wirtschaftliche Scheinblüte beschert. Die künstliche Konjunktur bedingte eine Ausdehnung der öffentlichen Haushalte und ihrer sozialen Leistungen und ermöglichte höhere Löhne und eine leichtere Geldpolitik, als dies bei ausgeglichener Zahlungsbilanz und einem echten Reparationstransfer aus Überschüssen möglich gewesen wäre. Die oben so bezeichnete Borchardt-These I von der „kranken” Weimarer Wirtschaft der 20er Jahre beschreibt augenscheinlich nichts anderes als die binnenwirtschaftlichen Begleiterscheinungen dieser Konjunktur auf Pump: Wenn einmal die geborgte Konjunktur an ein Ende kam, mußten sich die Ver- zerrungen in der deutschen Volkswirtschaft um so stärker auswirken und die Krise über das normale Maß hinaus verschlimmern. Nach scharfer Kritik des Reparationsagenten an den Wohlfahrtsausgaben, der Be- amtenbesoldung, den Sportstadien, Schwimmbädern, Genossenschaftswohnungen und dergleichen mehr wurden im Young-Plan von 1929 die Zahlungsbedingungen für die Reparationen drastisch verschärft, und rasch kamen die Ausleihungen an Deutschland zum Stillstand^28. Zurückgeworfen auf die harten Realitäten des Reparationsverfahrens im Young-Plan und zusätzlich belastet um die Zeche für den Auslandskreditrausch des Dawes-Plans, befand sich Deutschland seit Mitte 1929 hart am Rande einer auswärti- gen Schuldenkrise 29. Die Notwendigkeit, nun hohe Überschüsse der Handelsbilanz zu erwirtschaften, hat den Zwang zu einer Austeritätspolitik begründet und es damit unmöglich gemacht, durch erhöhte öffentliche Kreditnahme oder leichtere Geldpolitik der Depression zu entgehen. Die Handlungszwänge dieser Austeritätspolitik unter dem Young-Plan sind der Grund für die Schwierigkeiten der öffentlichen Haushalte, während der Weltwirt- schaftskrise Kredit zu erlangen. Die Borchardt-These II von den mangelnden Hand-
(^28) Zu den Zusammenhängen zwischen der Kritik des Reparationsagenten und der deutschen Finanzpo- litik vgl. besonders H.G. James, The Reichsbank and Public Finance in Germany, 1924-1933: A 29 Study of the Politics of Economics during the Great Depression,^ Frankfurt am Main 1985. Vgl. zur Finanzpolitik des Jahres 1929 im einzelnen: U. Bachmann, Reichskasse und öffentlicher Kredit in der Weimarer Republik 1924-1932, Frankfurt am Main 1996.
lungsspielräumen für eine aktive Konjunkturpolitik während der Krise beschreibt die binnenwirtschaftlichen Effekte dieser Zwickmühle^30. Mitte 1931 brach die latente Krise offen aus, nur mühsam beherrscht durch das Hoover-Moratorium, die Stillhaltung und verzweifelte, weitere Deflationsmaßnah- men. Deutschlands Weg durch die Jahre 1929 bis 1932 unterscheidet sich von den heutigen Schuldenkrisen, Austeritätspolitiken und Währungskrisen in nichts, mit der Ausnahme einiger technischer Details. Und mit der Ausnahme der damals aufgetrete- nen politischen Risiken und Nebenwirkungen. Wenn die Indizien stimmen und es sich wirklich um eine auswärtige Schuldenkrise handelte, dann ist Borchardts Befund nicht überraschend und weiterer Streit um Brünings Sparkurs nicht nötig. Zum Bezahlen von Auslandsschulden kann man kein Geld drucken. Entweder man bestreitet diese Zahlungen aus den Überschüssen des Außenhandels, oder man ist auf auswärtigen Kredit angewiesen. Genausowenig kann ein nach außen überschuldetes Land mit Kreditschöpfung seine eigene Konjunktur ankurbeln. Das würde nämlich bei vermehrter Wirtschaftsleistung die Importe erhö- hen, aber nicht die Exporte, und es stände weniger als vorher für den Schuldendienst an das Ausland zur Verfügung. Entweder muß ein solches Land auf das Wiederanzie- hen der internationalen Konjunktur warten oder sich durch einseitige Schuldenstrei- chung vom Ausland abnabeln^31. Saß Deutschland also in der Schuldenfalle? Gab es ein Argentinien-Problem? Aus Platzgründen kann hier kaum in die Details eingetreten werden. Nach der Ra- tifizierung des Young-Plans behinderte französischer und amerikanischer Druck zu- nächst den Lee-Higginson-Kredit, das letzte größere kommerzielle Kreditprojekt. Der
(^30) Andeutungsweise schon K. Borchardt , “A Decade of Debate About Bruening's Economic Policy.” in: Economic Crisis and Political Collapse. The Weimar Republic 1924-1933 , hrsg. von J.v. Krue- 31 dener, Oxford 1990, S. 99-151. Es gibt Indizien dafür, daß Deutschland sozusagen beides getan hat: Als der Nationalsozialismus zur Macht kam, hatte die internationale Krise ihre Talsohle bereits durchschritten. C. Buchheim, “Zur Natur des Wirtschaftsaufschwungs in der NS-Zeit.” in: Zerrissene Zwischenkriegszeit, Festschrift Knut Borchardt , hrsg. von C. Buchheim, M. Hutter und H. James, Baden-Baden 1994, S. 97-119; hat argumentiert, daß auch ein Aufschwung mit fortgesetzter internationaler Verflechtung der deut- schen Wirtschaft möglich gewesen wäre. In der Tat darf der sogenannte NS-Aufschwung nicht als isolierte deutsche Erscheinung fehlinterpretiert werden. Vermutlich ist der Anteil bewußter Kon- junktursteuerung am Aufschwung ab 1933 weit geringer, als dies in der Literatur meist unterstellt wird. Vgl. hierzu schon R. Erbe, Die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik 1933-1939 im Lichte der modernen Theorie, Zürich 1958. Bis 1937 ist das Sozialprodukt in den USA mit ähnlichen Jah- resraten wie in Deutschland gewachsen, dies trotz einer ganz anders gearteten Finanz- und Außen- handelspolitik. Moderne Techniken der Konjunkturprognose sagen schon am Stand des Jahresendes 1932 den Wiederaufschwung in Deutschland bis 1936 vollständig und richtig voraus, vgl. Ritschl, Krise und Konjunktur, Kap_._ 2.
Anschein, als habe Brüning hier aus politischen Gründen eine sich bietende Gelegen- heit für zusätzlichen Auslandskredit bewußt unterlaufen^33. Der französische Rettungs- plan hatte allerdings den schweren Geburtsfehler, daß zwar Kredit an Deutschland gegeben werden sollte, aber nur bei Weiterlaufen der unbedingten Annuität des Young-Plans. Für Deutschland kam das kaum billiger als das Hoover-Moratorium und stellte nichts weiter dar als den Versuch, das alte System der Reparationszahlung auf Kredit aus dem Dawes-Plan wieder aufleben zu lassen. Aus der Untersuchung von Philipp Heyde weiß man mittlerweile, daß Brüning die- sen französischen Annäherungsversuchen viel stärker zugeneigt gewesen ist, als man bislang angenommen hat 34. Zuletzt aber wurde der amerikanische Botschafter in Ber- lin vorstellig und verlas den Deutschen ein Telegramm Hoovers, das sich klar gegen weiteren Kreditprojekten im Ausland aussprach^35. Eine konzeptionell denkbare Alternative zu weiteren Auslandskrediten und fortge- setzter Deflation hätte in einer Abwertung der Reichsmark, also einer einseitigen Auf- kündigung des Goldstandards, bestanden. Bei Nichtberücksichtigung der deutschen Überschuldung im Ausland wäre diese Option ohne Zweifel der gegebene Ausweg aus der Krise gewesen. Über diesen Punkt hat unter den Kontrahenten weitgehende Einigkeit geherrscht^36. Auch international haben sich Volkswirtschaften der Abwer- tungsländer insgesamt rascher von der Krise erholt als diejenigen des sogenannten Goldblocks 37. Allerdings setzten die Regelungen der Stillhalteabkommen und die Be- dingungen des Hoover-Moratoriums einer solchen Strategie von vornherein engste Grenzen: Eine Abwertung wäre als Versuch einer einseitigen Änderung der Spielre- geln aufgefaßt und mit Kündigung der Stillhaltung sowie massiven Kapitalabzügen beantwortet worden.
(^33) Vgl. zu dieser Debatte schon K. Borchardt, “Zwangslagen und Handlungsspielräume ...”; sowie C.- L. Holtfrerich, “Alternativen zu Brünings Politik ...?”; C.-L. Holtfrerich , “Policy of Deflation ... ”; 34 sowie K. Borchardt , “A Decade of Debate ... ”. 35 P. Heyde,^ Das Ende der Reparationen , S. 224. Akten der Reichskanzlei Brüning, Dok. 416 v. 29.7.1931. Zur Motivation vgl. schon Helbich, Repa- 36 rationen ; S. 82 f. K. Borchardt , “Zur Frage der währungspolitischen Optionen ... ”; C.-L. Holtfrerich, “Alternativen zu Brünings Politik ...?”; K. Borchardt, “Could and Should Germany Have Followed Britain in 37 Leaving the Gold Standard?”,^ Journal of European Economic History^ 13 (1984), S. 471-498. Hierzu schon B. Eichengreen und J. Sachs, “Exchange Rates and Economic Recovery in the 1930s.”, Journal of Economic History 45 (1985), S. 925-946 sowie B. Bernanke und H. James , “The Gold Standard, Deflation, and Financial Crisis in the Great Depression: An International Comparison.” in: Financial Markets and Financial Crisis , hrsg. von G. Hubbard, Chicago 1991, S. 33-68.
Gegeben den Young-Plan war es also die beste Strategie, einerseits Erfüllungspoli- tik zu betreiben, und das heißt Deflationspolitik, andererseits aber vorsichtig in die Revision des Young-Plans einzusteigen, immer ohne das Ausland zu Gegenmaßnah- men zu reizen. Je länger der Young-Plan die deutsche Zahlungsbilanz in der Krise vorbelastete, um so weniger war an neuen Auslandskredit zu denken. Brüning defla- tionierte nicht, um eine Revision zu erzwingen, sondern umgekehrt, weil und solange sie nicht zu erzwingen war. Brünings Spiel mit dem Feuer in Gestalt der mißratenen deutsch-österreichischen Zollunionspläne im Frtühjahr 1931 und der Drohung mit ei- nem einseitigen Moratoriumsschritt vor dem Besuch in Chequers hatte die Folgen un- bedachter einseitiger Schritte gerade eben erst gezeigt 38 Dasselbe gilt für die Planungen für die Zeit nach dem Young-Plan. Die Deflati- onsmaßnahmen hatten zum Ziel, langfristig Deutschlands Zahlungsfähigkeit wieder- herzustellen^39. Das hatte dann einen Sinn, wenn nach der Depression ein weitgehend freier Kredit- und Warenverkehr rekonstruiert wurde – immer mit dem Gedanken, nach einem Wegfall der Reparationen neuen internationalen Kredit nach Deutschland ziehen zu können. Brüning setzte im Frühjahr 1932 Hoffnungen auf solche Kredite. Eine fünfte Notverordnung war geplant, mit der Anleiheermächtigungen im Umfang von 1,5 Mrd. RM ausgegeben werden sollten. Nach einem erhofften Ende der Repara- tionen und dem Wegfall der dadurch entstehenden Devisenbelastungen konnte damit sofort das Steuer herumgeworfen werden, ganz wie es Schumpeter in seinem Zei- tungsbeitrag ausgedrückt hatte, und eine Kreditausweitung in Angriff genommen werden. Das Projekt scheiterte an einem auf nationalsozialistische Initiative erfolgten Einspruch des Reichsschuldenausschusses, der darin, juristisch wohl nicht unzutref- fend, einen Verfassungsbruch sah^40. Allerdings sorgte die intensiver werdende Berliner Diskussion um die Arbeitsbe- schaffung im Spätwinter 1932 bei den Stillhaltegläubigern, die um die Sicherheit ihrer Kredite besorgt waren, für erhebliche Irritationen. Zuletzt hat der Widerspruch zwi- schen der wachsenden Ungeduld innerhalb der Regierung und wachsendem Mißtrau- en der Gläubiger zur Destabilisierung des Kabinetts Brüning beigetragen.
(^38) Vgl. dazu P. Heyde, Das Ende der Reparationen , S. 149 ff., H. Graml, Zwischen Stresemann und
39 Hitler , Kap. 2. Beredt hierzu die Tagebücher Hans Schäffers; vgl. etwa E. Wandel, Hans Schäffer. Steuermann in 40 wirtschaftlichen und politischen Krisen,^ Stuttgart 1974. Zu den Details Ritschl, Deutschlands Krise und Konjunktur, S. 173 ff.
frühen dreißiger Jahren und des Dawes-Plans in den späten zwanziger Jahren. Tat- sächlich ist das eine das Gegenstück des anderen. Setzt man, wie das hier skizziert wurde, die Ergebnisse beider Diskussionen zueinander in Beziehung, so ergibt sich ein neues Gesamtbild. Borchardts These von den Zwangslagen während der Krise er- klärt sich, wenn man die heraufziehende äußere Schuldenkrise unter dem Young-Plan in Betracht zieht. Dann ist die innere Schuldenkrise nurmehr eine Begleiterscheinung der äußeren, eben der „innere Young-Plan“, wie das gelegentlich genannt worden ist. Borchardts These von der Krise vor der Krise hängt dagegen mit dem deutschen Kre- ditrausch der mittleren zwanziger Jahre zusammen. Weil amerikanische Kredite ins Land kamen und selbst Abzug der Reparationen noch etwas davon übrig blieb, konnte Deutschland sich vorerst unbesorgt hohe Lohnkosten und eine großzügige Sozialpoli- tik leisten, ohne wie in England mit einer wirtschaftlichen Dauerkrise konfrontiert zu werden. – Hier kann nur angedeutet werden, welch anderen Verlauf die Weltwirt- schaftskrise hätte nehmen können, wenn man in den zwanziger Jahren eine vorsichti- gere Kreditpolitik betrieben hätte 42. Immerhin hatte Brüning schon 1926 die damalige Ausgabenpolitik wegen ihrer Vorbelastung der Zukunft unter den Zwängen der Repa- rationen kritisiert; aus heutiger Sicht muß dieser Kritik zugestimmt werden 43. Allerdings mag man sich die Frage vorlegen, ob eine politische Stabilisierung oder gar „Goldene Jahre“ Weimars ohne amerikanische Kredite möglich gewesen wären. Es hat in Deutschland Wählermehrheiten für eine wirkliche wirtschaftliche Erfül- lungspolitik nicht gegeben, nicht in den mittleren zwanziger Jahren und erst recht nicht während der Großen Krise. Für die Durchsetzung der Stabilisierung war schon 1923 das Notverordnungsrecht in bedenklichem Maß in Anspruch genommen wor- den; dies wiederholte sich ab Juli 1930, als es keine Reichstagsmehrheit für die wirt- schaftliche Umsetzung des Young-Plans gab. Brünings technokratischer Ansatz zur Erfüllungspolitik ist mit gewissem Recht als “unpolitische Politik” dargestellt wor- den^44. Sie war insofern tatsächlich unpolitisch, als sie die Legitimationszwänge in ei-
(^42) Hierzu ausführlicher A. Ritschl, “Reparation Transfers, the Borchardt Hypothesis, and the Great Depression in Germany 1929-1932: A Guided Tour for Hard-Headed Keynesians.”, European Re- 43 view of Economic History^ 2 (1998), S. 49-. Zu Brünings Standpunkt R. Morsey , “Brünings Kritik an der Reichsfinanzpolitik 1919-1929.” in: Geschichte, Wirtschaft und Gesellschaft. Festschrift für Clemens Bauer , hrsg. von E.Hassinger u.a., Berlin 1974, S. 359-373. Zur Einordnung, allerdings mit schwankendem Urteil: D. Hertz-Eichen- rode, Wirtschaftskrise und Arbeitsbeschaffung. Konjunkturpolitik 1925/26 und die Grundlagen der 44 Krisenpolitik Brünings,^ Frankfurt am Main 1982. K.-D. Bracher, “Brünings unpolitische Politik und die Auflösung der Weimarer Republik.”, Viertel- jahreshefte für Zeitgeschichte 19 (1971), S. 113-123.
nem parlamentarischen System ignorierte, die auch nach seiner Einmottung im Herbst 1930 fortbestanden und sich zunehmend gewaltsam außerhalb des parlamentarischen Rahmens kundtaten. Hochpolitisch allerdings war sie darin, richtig zu erkennen, daß der gesamte Bewegungsspielraum deutscher Budget-, Geld- und Kreditpolitik vom Young-Plan abhing, und darum die Erfüllung und allenfalls eine Revision des Young- Plans durch Nachverhandlung zur obersten Priorität deutscher Politik zu erheben. Eine andere als die ab 1930 tatsächlich geübte Politik Brünings unter dem Notver- ordnungsregime braucht allerdings nicht ernsthaft in Betracht gezogen zu werden. Je- de aktivere Konjunkturpolitik hätte einen frühzeitigen und nach Lage der Dinge ein- seitigen Bruch mit dem Young-Plan vorausgesetzt und damit eine Kapitulation vor dem außenwirtschaftlichen Programm der extremen Rechten. Mit der Drohung einer Machtbeteiligung des deutschen Faschismus seit der Septemberwahl von 1930 lag die wirkliche Alternative zu Brünings Kurs klar zutage. Ohne Brünings Sturz Ende Mai 1930 wäre eine Erholung Deutschlands von der Krise ohne Hitler denkbar gewesen – die Legislaturperiode lief immerhin bis September 1934. Das Zurückdrängen des Par- laments in der Periode Brüning spiegelt lediglich den prinzipiellen Zwiespalt zwi- schen Sozialstaatspolitik und außenwirtschaftlicher Erfüllungspolitik wieder, der die Weimarer Republik von Beginn an geprägt hatte. Gefangen zu sein zwischen außen- politischer Staatsräson und der Schaffung einer innenpolitischen Legitimationsbasis, dieses Dilemma hat im Kern die Zwangslagen und Handlungsspielräume der deut- schen Wirtschaftspolitik seit den Anfängen der Weimarer Republik bestimmt.