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Skript zu Pierre Bourdieu: Die verborgenen Mechanismen der Macht | Universität Duisburg-Essen
Art: Skripte
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Prof. Dr. Renate Nestvogel
Pierre Bourdieu (1930-2002) ist ein weiterer Gesellschaftstheoretiker, der wichtige Beiträge zum Verstehen des Zusammenhangs von Gesellschaft, Sozialisation und Bildungssystem geliefert hat. Sein zentrales Anliegen war, soziale Ungleichheiten und Machtmechanismen in der Gesellschaft und auch in der Wissenschaft sowie im Bildungssystem aufzudecken, ihre Ursachen und Wirkmechanismen zu ergründen und darüber hinaus Handlungsstrategien zu entwickeln. Deshalb hat er nicht nur wissenschaftlich gearbeitet, sondern sich auch in die Politik eingemischt und politisch-soziale Bewegungen initiiert und unterstützt. Er stammte aus kleinen bäuerlichen Verhältnissen und hat sich über das französische Bildungssystem und die renommiertesten französischen Bildungsinstitutionen regelrecht bis zur Spitze der französischen Intellektuellen hochgearbeitet. An der Elitehochschule Ecole Normale Supérieure hat er Philosophie studiert und ab 1982 war er Mitglied des Collège de France, dem renommiertesten Forschungsinstitut in Frankreich. Er hat ein umfangreiches Werk hinterlassen, das in großen Auflagen erschienen ist, u.a.: „Entwurf einer Theorie der Praxis“ (1979), „Die Illusion der Chancengleichheit“ (1971) zus. mit Passeron, „Die feinen Unterschiede“ (1982), „Die verborgenen Mechanismen der Macht“ (1992), „Das Elend der Welt“ (2002) sowie „Die männliche Herrschaft“ (2005). In dieser Vorlesung stelle ich einige Begriffe von Bourdieu vor, man kann sie auch Denkwerkzeuge nennen, mit denen soziale Gegebenheiten genauer erschlossen werden können, als wenn es diese Denkwerkzeuge nicht gäbe. Zentrale Begriffe sind der „soziale Raum“, sein Verständnis von sozialen Klassen, verschiedene Kapitalsorten sowie der Habitus. Diese Begriffe entwickelte er weiter, so dass sich daraus eine neue Sicht auf die Gesellschaft ergab. Die sozialen Klassen unterteilt er in die herrschende Klasse, die den Ton angibt (charakterisiert durch Distinktion: Abstand, Unterschied), die mittlere Klasse, die aufsteigen will (charakterisiert durch Prätention) und die Volksklasse (charakterisiert durch Notwendigkeit). Bourdieu sieht die Gesellschaft als einen sozialen Raum und grenzt sich mit diesem Begriff von Vorstellungen ab, die „von säuberlich geschiedenen neben- oder übereinander stehenden gesellschaftlichen Gruppen“ (Bourdieu in Baumgart 1997: 209) ausgehen. Für ihn besteht der soziale Raum aus mehreren Dimensionen, die er als drei übereinander gelegte (transparente) Schemata konzipiert: Kapitalvolumen, Kapitalart und die Beziehung zwischen sozialer Position und Lebensstilen (kulturelle Vorlieben, Hobbies, Freizeitgestaltung etc.). Er spricht
Prof. Dr. Renate Nestvogel von einer Art „Achsenkreuz“: „die vertikale Achse hat ein „oben„ und ein „unten“, die horizontale einen intellektuellen und einen ökonomischen Pol“ (ebd.: 210). Das erste Schema des Kapitalvolumens betrifft die drei vertikal gegliederten sozialen Klassen der herrschenden, der mittleren und der Volksklassen. Diese Begriffe sind allgemein verbreitet und bekannt, und das Unterscheidungskriterium für diese drei Schichten ist normalerweise das ökonomische Kapital , d.h. das Einkommen und Vermögen, über das diese Gruppen verfügen. Das zweite Schema betrifft die horizontale Untergliederung nach Kapitalarten : neben dem ökonomischen Kapital , (das Einkommen, Geld, Vermögen betrifft und das bereits Karl Marx zutreffend beschrieben hat), sind dies das soziale und das kulturelle sowie, weniger systematisch ausgeführt, auch das symbolische Kapital. Bourdieu führt diese Kapitalsorten deshalb ein, weil 1. nicht nur ökonomisches Kapital, sondern auch die Akkumulation der anderen Kapitalsorten Macht und Einfluss vermitteln kann, und 2., um die Mehrdimensionalität sozialer Ungleichheit zu betonen. Das soziale Kapital sind „alle Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen, sei es ein Familienhintergrund, die Ausbildung in einer Eliteanstalt oder die Zugehörigkeit zu einflussreichen Kreisen“ (Rehberg, in Joas (Hg.) 2007: 78), also die Beziehungen, über die ein Mensch verfügt. „Der Umfang des Sozialkapitals, das der einzelne besitzt, hängt demnach sowohl von der Ausdehnung des Netzes von Beziehungen ab, die er tatsächlich mobilisieren kann, als auch von dem Umfang des (ökonomischen, kulturellen oder symbolischen) Kapitals, das diejenigen besitzen, mit denen er in Beziehung steht“ (Bourdieu, in Baumgart 1997: 225). Das kulturelle Kapital kann in drei Formen existieren: in Form des inkorporierten, objektivierten und institutionalisierten Kapitals. Das inkorporierte , verinnerlichte Kapital ist die Bildung, die man – bewusst oder unbewusst
Prof. Dr. Renate Nestvogel ihrem Kapital, d.h. sie tauschen bestimmte Kapitalarten gegen andere und versuchen dabei, Kapital zu akkumulieren. (Beispiele: Studierende, Politiker, Familiengeschichte) Das dritte Schema, das Bourdieu über empirische Befragungen ermittelt hat, betrifft den Lebensstil der einzelnen Gruppen (s. seine Studie „Die feinen Unterschiede“ 1982). Der Habitus sagt etwas über die Sozialisation aus, die ein Mensch im sozialen Raum durchlaufen hat. Der Habitus ist für Bourdieu das „Körper gewordene Soziale“. Er stellt eine Relation/Beziehung her zwischen Individuum und sozialen Strukturen/Gesellschaft. Damit versucht B., den Dualismus zwischen Individuum und Gesellschaft aufzuheben. In einer Deutung Pascals schreibt er: „Ich bin in der Welt enthalten, aber sie ist auch in mir enthalten. Die soziale Realität existiert sozusagen zweimal, in den Sachen und in den Köpfen, in den Feldern und in den Habitus innerhalb und außerhalb der Akteure […], weil sie [die Welt] mich produziert hat und weil sie die Kategorien produziert hat, die ich auf sie anwende“ (Bourdieu, zit. n. Engler 2004: 224). Zur näheren Kennzeichnung dieser Welt und „um die gesellschaftlichen Bedingungen der Ausbildung der Formen des Habitus so umfassend wie möglich zu rekonstruieren, hat Bourdieu das erwähnte Konzept des sozialen Raumes entwickelt. Je nach Stellung im sozialen Raum ist der Habitus ein anderer: „Als Vermittlungsglied zwischen der Position oder Stellung innerhalb des sozialen Raums und spezifischen Praktiken, Vorlieben usw. fungiert das, was ich Habitus nenne, das ist eine allgemeine Grundhaltung, eine Disposition gegenüber der Welt, die zu systematischen Stellungnahmen führt. Es gibt …] tatsächlich […] einen Zusammenhang zwischen höchst disparaten Dingen: wie einer spricht, tanzt, lacht, liest, was er liest, was er mag, welche Bekannte und Freunde er hat usw.- all das ist eng miteinander verknüpft“ (Bourdieu, in Baumgart 1997: 206). „Wer den Habitus einer Person kennt, der spürt oder weiß intuitiv, welches Verhalten dieser Person verwehrt ist. Mit anderen Worten: der Habitus ist ein System von Grenzen [..] wir alle haben unsere Grenzen. Allerdings gibt es die Möglichkeit, sich dessen bewusst zu werden“ (ebd.: 207). Wenn „zwischen dem Raum der sozialen Positionen und dem der Lebensstile, der Lebensweisen und Geschmacksrichtungen eine Korrespondenz besteht, dann muss sich zwangsläufig jede Veränderung im Bereich der sozialen Positionen auf die eine oder andere Weise innerhalb des Bereichs von Geschmack und Lebensstil niederschlagen“ (ebd.:208). Mit der Position im sozialen Raum sind spezifische Dispositionen, Wahrnehmungs-, Deutungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata verbunden, die den jeweiligen Habitus ausmachen. Der Habitus ist strukturiert (durch die Sozialisationserfahrungen der Vergangenheit) und strukturierend (indem er auf seine Umwelt einwirkt). Er ist nichts Statisches (er ist geworden und in weiterem Werden begriffen). Abgesehen von eher unbewusst verlaufenden kontinuierlichen Modifikationen im Habitus können verinnerlichte,
Prof. Dr. Renate Nestvogel verkörperlichte Dispositionen laut Bourdieu (2005: 73) nicht durch Willen oder Bewusstsein verändert werden, sondern „allein von einer radikalen Umgestaltung der gesellschaftlichen Produktionsbedingungen eben jener Dispositionen (ebd.: 77). Mit den hier dargestellten Begrifflichkeiten und Konzepten lassen sich auch die ungleichen Chancen erhellen, die die Kinder der einzelnen sozialen Klassen im Bildungssystem haben. Statistiken, die dies belegen, gibt es zahlreiche. „Selten dagegen werden die verborgeneren Formen zur Kenntnis genommen, in denen sich die Ungleichheit der Bildungschancen manifestiert, wie beispielsweise die Abdrängung der Kinder aus den unteren und mittleren Klassen auf bestimmte Fakultäten und die Verlängerung oder Unsicherheit im Studiengang“ (Bourdieu/Passeron, in Baumgart 1997: 232). Die starke Aussonderung der unteren Klassen aus den höheren Bildungsgängen „erklärt sich nicht allein aus den wirtschaftlichen Hindernissen. Die Größe der kulturellen Hindernisse, die die Kinder aus unterprivilegierten Klassen zu überwinden haben, wird bereits daran deutlich, dass noch auf Hochschulebene signifikante Unterschiede im Verhalten und in den Fähigkeiten zwischen Studenten verschiedener sozialer Herkunft bestehen, obwohl sie sämtlich fünfzehn bis zwanzig Jahre lang der homogenisierenden Wirkung der Schule ausgesetzt waren“ (ebd.). D.h., viele Unterschiede, die auf das Elternhaus, die soziale Schichtzugehörigkeit zurückgehen, sind in der Schule nicht ausgeglichen, kompensiert worden, und sie haben einen Einfluss darauf, wie das universitäre Wissen verstanden und verarbeitet wird. Unterschiede sieht Bourdieu in „milieubedingten Einstellungen, Fähigkeiten und Vorkenntnissen“ (ebd.: 238). Diese betreffen z.B. den Umfang des Wortschatzes, die sog. Fremdwörter, Griechisch und Latein, um sich Fremdwörter herleiten zu können, weitere Fremdsprachen, d. W. Allgemeinbildung zu Politik, Ökonomie, Kultur, zu gesellschaftlich-historischen Zusammenhängen; die Fähigkeit, Schriftsprache zu verstehen, Lesekompetenzen, den sprachlichen Ausdruck, Selbstwertkonzepte, Sicherheit oder Unsicherheit im Auftreten etc. Bourdieu spricht damit ein oft tabuisiertes Thema an: „Die soziale Herkunft ist, wie eine beträchtliche Anzahl von Untersuchungen ergeben hat, für den gesamten Bildungsgang und besonders an dessen großen Wendepunkten ausschlaggebend: Das Bewusstsein, dass ein Studium (besonders in manchen Fächern) teuer ist und verschiedene Berufe ein Vermögen voraussetzen, die ungleiche Information über Studien- und Berufsmöglichkeiten, kulturelle Vorbilder, die bestimmte Berufe und Fächer (Latein zum Beispiel) mit einem bestimmten sozialen Milieu verbinden, und endlich die gesellschaftlich bedingte Fähigkeit, sich den im Bildungswesen vorherrschenden Vorbildern, Regeln und Wertvorstellungen anzupassen, bilden eine Gesamtheit von Faktoren, aufgrund derer man sich „am richtigen Platz“ oder „fehl am Platz“ fühlt. Sie bewirken bei gleicher Befähigung eine nach Gesellschaftsklassen ungleiche Erfolgsquote, vor allem in jenen Fächern, die schon vorhandenes intellektuelles Handwerkzeug, kulturelle Gewohnheiten oder finanzielle Möglichkeiten voraussetzen“ (Bourdieu/Passeron, in Baumgart 1997: 235f). Vieles, was der Begabung oder der Persönlichkeit zugeschrieben wird, ist laut Bourdieu, „von frühzeitigen Orientierungen abhängig […], die unweigerlich durch das familiäre Milieu bestimmt werden“ (ebd.: 236).