








Besser lernen dank der zahlreichen Ressourcen auf Docsity
Heimse Punkte ein, indem du anderen Studierenden hilfst oder erwirb Punkte mit einem Premium-Abo
Prüfungen vorbereiten
Besser lernen dank der zahlreichen Ressourcen auf Docsity
Download-Punkte bekommen.
Heimse Punkte ein, indem du anderen Studierenden hilfst oder erwirb Punkte mit einem Premium-Abo
Community
Finde heraus, welche laut den Docsity-Nutzern die besten Unis deines Landes sind
Kostenlose Leitfäden
Lade unsere Leitfäden mit Lernmethoden, Hilfen zur Angstbewältigung und von Docsity-Tutoren erstellte Tipps zum Verfassen von Haus- und Abschlussarbeiten kostenlos herunter
Skript zu Soziale Ungleichheiten. Klassen und Schichten | Nicole Burzan
Art: Skripte
1 / 14
Diese Seite wird in der Vorschau nicht angezeigt
Lass dir nichts Wichtiges entgehen!
1 Begriffe und zentrale Fragestellungen
Was macht aus Ungleichheit eine soziale Ungleichheit? Geht man davon aus, dass spe- zifische Kombinationen aus Aussehen, Wesenszügen, Interessen etc. je einzigartige In- dividuen ausmachen, dann sind zunächst einmal alle Menschen ungleich. Im nächsten Schritt sind Gruppen mit z. B. ähnlichen Interessen und Werten denkbar, bei denen bestimmte andere Merkmale eher untypisch sind. Beispielsweise schauen regelmäßige Opernbesucher vielleicht eher nicht actionreiche Vorabendserien. Hier kommt bereits ein soziales Moment von Zugehörigkeit und Abgrenzung hinein: Es gibt Menschen, die sich in diesen Hinsichten ähnlich sind und mit denen man wahrscheinlicher in (nähe- ren) Kontakt kommt als mit anderen. Dennoch wäre in diesem Szenario noch keine soziale Ungleichheit im soziologischen Sinne gegeben, wenn die Unterschiedlichkeit keinerlei hierarchische Bedeutung hätte. Soziale Ungleichheit liegt dann vor, wenn die Unterschiede mit relativ stabiler Besser- oder Schlechterstellung verbunden sind, wenn es verschiedene Möglichkeiten der Teilhabe an Gesellschaft und der Verfügung über gesellschaftlich relevante Ressourcen (Krause 2007: 686) gibt. Worin die gesellschaft- lich relevanten Teilhabemöglichkeiten und Ressourcen bestehen, variiert je nach Ge- sellschaft und Zeitpunkt, z. B. war in der Feudalgesellschaft der Landbesitz wichtiger, als es heute der Fall ist. Die Besser- oder Schlechterstellung verschiedener Bevölkerungs- gruppen muss nicht zwingend ein ungerechtes Phänomen darstellen. Im Sinne beispiels- weise von Leistungsgerechtigkeit sollten zwar die Chancen, eine bestimmte Position zu erreichen, gleich sein, das Ergebnis hingegen kann dann je nach Leistung unterschied- lich ausfallen. Die Marktforschung macht sich solche (sozialen) Ungleichheiten zunutze, indem typische Kombinationen von Merkmalen werbewirksam verwendet werden. So ist dort möglicherweise von Interesse, ob die 50-jährige Frau mit Abitur aus der Großstadt eher runde oder eckige Türklinken bevorzugen würde und mit welcher Kaufkraft das Unter- nehmen rechnen kann. Die soziologische Forschung geht über diese Fragestellung hin- aus, weil eben der Gesichtspunkt der Besser- und Schlechterstellung erkenntnisleitend ist, und zwar über eine Momentaufnahme hinaus. Es stellen sich dann Fragen, deren Antworten allerdings selbst für eine bestimmte Gesellschaft kontrovers diskutiert wer- den. Solche Fragen lauten:
S. Mau, N. M. Schöneck (Hrsg.), Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands , DOI 10.1007/978-3-531-18929-1_53, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013
t Welche Dimensionen sozialer Ungleichheit sind besonders wichtig? Als klassische Schichtungsmerkmale gelten etwa die Bildung, das Berufsprestige und das Einkom- men. t Welche Ursachen führen dazu, dass einige über entsprechende Ressourcen verfügen und andere nicht? Sind es eher zugeschriebene Merkmale wie das Alter und die ethnische Herkunft oder sind es eher erworbene Merkmale wie Bildungsabschlüsse? Hier zeigt sich übrigens schon das Problem, dass Dimensionen und Ursachen je nach Perspektive nicht immer scharf voneinander zu trennen sind. t Wie kann man sich sozial ungleiche Gruppen vorstellen (wie viele sind es beispiels- weise) und in welchem (z. B. konflikthaften) Verhältnis zueinander stehen sie? t Wie stabil ist dieses Muster sozialer Ungleichheit, kann jemand z. B. recht leicht auf- steigen und welche Strategien der Höhergestellten gibt es, um den privilegierten Sta- tus zu erhalten?
Die Überlegung, welches Muster sozialer Ungleichheit sich durch die Beantwortung dieser Fragen ergibt, hat in der Soziologie lange Zeit zu Klassen- und Schichtkonzepten geführt. Diese werden in Abschnitt 2 charakterisiert, bevor Abschnitt 3 darstellt, warum und wodurch die älteren Konzepte ab etwa Ende der 1970er Jahre modifiziert und er- gänzt wurden. In Abschnitt 4 werden schließlich der Stand und die Perspektiven der ge- genwärtigen Ungleichheitsforschung zum Thema.
2 Klassen und Schichten
In einigen Zusammenhängen erscheinen die Begriffe » Klasse « und » Schicht « heutzu- tage fast austauschbar, insbesondere in der englischen Sprache wird oft » social classes « verwendet, womit beides gemeint sein kann. Auch in der deutschen Sprache sind etwa » Facharbeiter « eine Gruppierung, die in beiden Modellen vorkommen kann. Unter- scheiden Klassen und Schichten sich dann überhaupt wesentlich voneinander? Geht man einmal von den Begriffen selbst aus, so nehmen Klassen Einteilungen in unter- schiedliche » Schubladen « vor (und zwar nach der Stellung im Wirtschaftsprozess), wäh- rend Schichten, in Anlehnung an Schichten in der Geologie, übereinander angesiedelt sind. Vielleicht ist es auch deshalb gängig, von » Klassenverhältnis « zu sprechen – und konkret ist dann meist ein antagonistisches Gegeneinander gemeint –, während das Wort » Schichtenverhältnis « nicht üblich ist, denn die Dominanz des vertikalen Über- und Untereinander ist bereits impliziert. Dagegen sind Konflikte zwischen Schichten hierbei nicht zwingend und insgesamt relationale Aspekte weniger relevant für die- ses Konzept. Doch wo hört eine Schicht auf und beginnt die nächste? Nehmen wir einmal das Ein- kommen als Schichtmerkmal, so ist jemand mit 10 000 Euro Monatseinkommen sicher-
eine differenzierte Beschreibung der (vertikalen) Sozialstruktur und sozialer Mobilität (▶ Soziale Mobilität). Entsprechende Kritikpunkte am jeweils anderen Modell lassen sich spiegelbildlich aus diesen Aspekten herauslesen. Dabei steht nicht ein Klassen- einem Schichtmodell gegenüber. Nach Ansätzen be- reits soziologischer Klassiker hierzu wie Marx, Weber, Geiger oder Parsons bildeten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der deutschen Diskussion zunächst Schichten auf der Basis des Berufsprestiges den » Mainstream « der Ungleichheitsforschung, wäh- rend sogenannte neomarxistische Ansätze oder die in den 1950er Jahren von Schelsky (1953) formulierte bekannte These einer » nivellierten Mittelstandsgesellschaft « eher Kontrastfolien dazu darstellten (vgl. auch Burzan 2011a: Kapitel 2 – 3). Insbesondere po-
Abbildung 1 Das » Zwiebel «-Modell sozialer Ungleichheit in Deutschland
Quelle: Bolte et al. (1967: 316).
pulär und bis heute bekannt ist die sogenannte » Zwiebel « nach Bolte et al. (1967), die eine breite untere Mitte der westdeutschen Gesellschaft^1 symbolisiert (Abbildung 1). In- teressanterweise zeigt sich schon hier eine nicht allein vertikale oder scharf abgegrenzte Unterteilung der Schichten – Aspekte, über die die Ungleichheitsforschung in der Fol- gezeit zunehmend debattierte.
3 Über traditionelle Klassen und Schichten hinaus
Spätestens in den 1970er Jahren wuchs die Unzufriedenheit mit den theoretischen Mo- dellen, die die reale soziale Ungleichheit nicht mehr differenziert genug abzubilden schienen. Angesichts günstiger wirtschaftlicher und wohlfahrtsstaatlicher Entwicklun- gen sowie im Zuge der Bildungsexpansion (▶ Bildung und Bildungssystem) ließ sich aus den bisherigen Klassen und Schichten – in denen zudem oft der (männliche) » Haus- haltsvorstand « für den Status des gesamten Haushalts stand – immer weniger eine ge- meinsame Lebenswirklichkeit der ihnen Zugeordneten ableiten. Lebensweisen, Werte, Geschmack und soziale Kontakte waren schon zuvor nicht deterministisch zu sehen, aber auch nur typische Zuordnungsmöglichkeiten nahmen ab bzw. es wurde zumin- dest der Blick der Wissenschaft sensibler für sogenannte » neue « und » horizontale « so- ziale Ungleichheiten – wobei sich der Oberbegriff Ungleichheit gegenüber dem zuvor gebräuchlichen der Schichtung durchsetzte. » Neue « Ungleichheiten (beispielsweise Ar- beits- und Wohnbedingungen) gehen mit den üblichen Ungleichheitsmerkmalen wie Berufsstatus und Bildung nicht umstandslos einher. » Horizontale « Ungleichheiten (oft zugeschriebene Merkmale) implizieren für sich genommen noch keine Rangfolge, füh- ren aber zu Benachteiligungen oder Privilegierungen, z. B. das Geschlecht, die ethnische Herkunft oder die Kohortenzugehörigkeit. So kann etwa die Nationalität den beruf- lichen Aufstieg bei sonst gleicher Qualifikation beeinflussen (vgl. zu sozialstrukturellen Entwicklungen Geißler 2011; Hradil 2001; im Überblick Diewald 2010) (▶ Sozialstruktur; ▶ Soziale Mobilität; ▶ Einkommen und Vermögen). Differenziertere Modelle waren daher gefragt, die diesen sozialen Wandel berück- sichtigten und im Idealfall die Dynamiken, aber auch Beharrungstendenzen sozia- ler Ungleichheit erfassen und somit einen theoretischen Erklärungsanspruch erheben konnten. Auf diese Herausforderung bildeten sich drei Arten theoretischer Reaktionen heraus. Erstens wurden Klassen- und Schichtmodelle prinzipiell beibehalten, jedoch
1 Eine vergleichbare soziologische, empirisch fundierte Diskussion um soziale Ungleichheiten gab es in der DDR nicht (vgl. z. B. Lötsch/Meyer 1998; Mertens 2002), sodass die Darstellung sich auf die Bun- desrepublik fokussiert. Grob zusammengefasst, handelte es sich in der DDR um eine » staatssozialisti- sche Klassengesellschaft « (Solga 1995: 208), in der die nach etwa 1960 Geborenen deutlich schlechtere Aufstiegschancen hatten als die Generation davor. Politische Loyalität und die soziale Positionierung hingen nicht ungebrochen, aber erkennbar zusammen, was auch zur zunehmenden Selbstrekrutierung der » sozialistischen Dienstklasse « führte (vgl. Gebauer/Salheiser 2008; Solga 1995).
Milieumodelle zeichnen sich, gerade in ihrer grafischen Zuspitzung, zumeist da- durch aus, dass sie eine vertikale ausdrücklich um eine horizontale Achse ergänzen. 2 Die vertikale Achse ist Schichtmodellen ähnlich, z. B. ist Bildung hierfür ein wichtiges konstitutives Merkmal. Auf der gleichen vertikalen Ebene werden jedoch nochmals ver- schiedene Milieus unterteilt, etwa durch unterschiedliche Werthaltungen, die dann wie- derum den Stil und die Prinzipien der Lebensweise oder der Handlungspraxis sowie den Geschmack (z. B. in Bezug auf Musik oder Kleidung) prägen. Der Anspruch der Modelle besteht oft darin, vertikale und horizontale Dimensionen sowie strukturelle und kultu- relle Aspekte sozialer Ungleichheit abzubilden und dadurch die Lebenswirklichkeit der Menschen besser zu erfassen als es Klassen und Schichten tun. Das Milieumodell von Vester als konkretes Beispiel zeigt Abbildung 2. Vielen der Milieumodelle wird (spätestens) aus heutiger Sicht oft vorgeworfen, sie würden die Wahlfreiheiten der Einzelnen überbetonen. Bei dem Versuch, soziale Un- gleichheit differenziert zu erfassen – anhand von Ressourcen, Werten und der Hand- lungspraxis, vertikalen und horizontalen Aspekten sowie auf der Makro- und der Mi- kroebene – seien klischeehafte Beschreibungen und/oder Entstrukturierungsthesen entstanden, die der Realität entweder schon in den 1980er und 1990er Jahren oder spä- testens in der Folgezeit nicht (mehr) entsprochen hätten und die darüber hinaus kaum einen Erklärungswert hätten (zur Bilanzierung von Lebensstilkonzepten vgl. z. B. Otte 2005 oder Rössel 2006). Angesichts der immer auch existierenden vertikalen Ungleich- heitsachse ist von einer fast unbegrenzten Wahlfreiheit in Milieumodellen – die sich tat- sächlich in ihrem Erklärungswert deutlich unterscheiden – nicht auszugehen. In dem Milieumodell von Vester (Abbildung 2) etwa markieren sogar vertikale Trennlinien der » Distinktion « und der » Respektabilität « Durchlässigkeitsgrenzen. Bourdieu (1982) entwirft ein » Modell des sozialen Raums «, in dem er die soziale Po- sition mit einem typischen Habitus und einer entsprechenden Handlungspraxis in Form von Lebensstilen (z. B. Freizeitaktivitäten, Geschmack) verknüpft. Ohne dieses Modell hier im Einzelnen vorzustellen, sind zwei Punkte zu nennen, in denen es sich von frühe- ren Klassen- und Schichtmodellen unterscheidet: Erstens wird die soziale Position recht komplex über die Menge und Struktur des Kapitals, über das jemand verfügt, bestimmt. Dabei spielt nicht nur ökonomisches Kapital eine Rolle, sondern auch kulturelles (As- pekte der Bildung und des – zum Teil schon in der Familie erworbenen – Wissens) und soziales Kapital (hilfreiche Netzwerke). Zweitens prägt die soziale Position den Habitus, das sind kollektive Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, sowie die Pra- xis der Lebensstile. Dabei sind diese beiden kulturellen Ebenen jedoch im Gegensatz zu früheren Klassen- und Schichtansätzen eigenständige Elemente des Modells. Dies
2 Dass die Konstruktion vertikaler und horizontaler Ungleichheiten nicht auf Milieumodelle beschränkt ist, zeigt z. B. das an Goldthorpe anknüpfende Klassenmodell von Oesch (2007), der horizontal beruf- liche Arbeitslogiken (interpersonell, technisch, organisatorisch und selbständig) differenziert (vgl. auch Vester 2010).
Abbildung 2 Soziale Milieus nach Vester
Quelle: Bremer/Lange-Vester (2006: 14).
alisierungsthese in Bezug auf soziale Ungleichheit, dass es zwar weiterhin ungleiche Ressourcenverteilungen gibt, dass diese aber nicht zu relativ stabilen sozialen Großgrup- pen führen – ob sie nun Klasse, Schicht oder Milieu heißen –, die z. B. mit ähnlichen Handlungsorientierungen verbunden sind. Ohnehin ist eine entsprechende Suche nach Großgruppen hiernach zu stark einer nationalstaatlichen Perspektive verhaftet, der Beck das Ziel eines transnationalen oder kosmopolitischen Blicks auf soziale Ungleichhei- ten gegenüberstellt (Beck 2008; Beck/Beck-Gernsheim 2010; Beck/Grande 2010; Beck/ Poferl 2010). In ihrer empirischen Geltung ist die Individualisierungsthese nach wie vor umstritten, insbesondere hinsichtlich der Frage, inwiefern neue Ungleichheitsstruktu- ren – die eben nicht mehr durch stabile Gruppierungen gefasst werden können – die al- ten tatsächlich abgelöst haben (vgl. Berger/Hitzler 2010; Burzan 2011b; Friedrichs 1998). Als allgemeine Gegenwartsdiagnose sozialen Wandels hat die These demgegenüber einen durchaus prominenten Stellenwert.
4 Gegenwärtige Ungleichheitsdiskurse und Zukunftsperspektiven
In welchem Rahmen bewegt sich die Analyse gegenwärtiger sozialer Ungleichheiten in Deutschland? Geißler (2011: 119) hält die Paradigmenvielfalt mittlerweile für sinnvoll, um unterschiedliche Aspekte einer komplexen Sozialstruktur zu erhellen; auch Rössel (2009: 360) spricht von einem Werkzeugkasten theoretischer Konzepte, die je nach Fra- gestellung zu verwenden seien. Zu den Ansätzen, die übergreifende Ungleichheitsstruk- turen zum Thema haben, treten zudem Diskussionslinien, die sich mit bestimmten As- pekten oder Segmenten sozialer Ungleichheiten und Benachteiligungen beschäftigen. Ein Beispiel, das in den letzten Jahren auch öffentlich-mediale Aufmerksamkeit erlangt hat, ist mit dem Stichwort der Prekarität verbunden. Dahinter verbirgt sich die These zunehmend unsicherer werdender Arbeits- und letztlich auch Lebensverhältnisse. Im Zuge der Ausbreitung atypischer Erwerbsarbeit wie befristeter Anstellungen oder Leih- arbeit wächst die Sorge breiterer Bevölkerungsgruppen, dass diese Prekarisierung sie treffen könnte (vgl. Castel/Dörre 2009). Das Thema steht im Kontext einer zunehmen- den Ungleichheit und entsprechend einer schrumpfenden Mitte der Gesellschaft (die » Einkommensmitte « machte 2009 immerhin einen Anteil von knapp 62 Prozent aus, Goebel et al. 2010: 4; vgl. auch Burzan/Berger 2010). Empirisch zeigt sich, dass die Ab- stiegsgefahr für mittlere soziale Lagen insgesamt nicht dramatisch zugenommen hat und dass die Befunde andererseits für die Verfestigung von Armutslagen sprechen (Groh- Samberg 2009, allgemein zu Laufbahnklassen Groh-Samberg/Hertel 2011). In diesem Bereich spielt auch der Begriff der Exklusion eine Rolle (Bude/Willisch 2006; Kronauer 2010; Münch 2009; Stichweh/Windolf 2009), der eine Grenze markiert, hinter der Be- nachteiligte nicht nur einen vergleichsweise geringeren Lebensstandard haben, sondern von wichtigen gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten wie Erwerbsarbeit oder qualifi- zierter Bildung ausgeschlossen sind.
Über diese Beispiele von Diskussionssträngen hinaus gibt es in einzelnen Bereichen der Sozialstrukturanalyse und an Schnittstellen zu anderen Teildisziplinen (z. B. der Bil- dungs- oder Geschlechterforschung) vielfältige Zugänge zur sozialen Ungleichheit, sei es z. B. mit Blick auf bestimmte Gruppen oder komplexe Merkmals- und Akteurskon- stellationen (z. B. Klasse, Ethnie, Geschlecht in der Intersektionalitätsforschung: Lutz et al. 2010; Winker/Degele 2009), auf räumliche Bezüge wie urbane, europäische oder transnationale Ungleichheiten (Berger/Weiß 2008; Mau/Verwiebe 2009) oder zeitliche Dynamiken wie in der Mobilitäts- oder Lebenslaufforschung (Groß 2008; Heinz et al. 2009), um nur einige zu nennen. Heißt dies nun, die Analyse sozialer Ungleichheiten hat sich vom vergleichsweise fes- ten Spektrum sozialer Klassen und Schichten zu einem » Konzept-Discounter « entwi- ckelt, in dem man sich nach Wahl bedienen kann, in dem die einzelnen » Abteilungen « jedoch nur wenig oder eher zufällig in Kontakt miteinander stehen? Sicherlich gibt es solche Spezialisierungen, Zersplitterungen (so Diewald/Faist 2011: 92) oder auch empi- risch ausgerichtete Zugänge, die kaum an theoretische Fragen anknüpfen. Doch es gibt ebenfalls vernetzte Diskurse über soziale Ungleichheit, etwa zum Thema einer wieder- kehrenden Klassengesellschaft Es stellt sich die Frage, » ob Deutschland auf dem Weg zurück zu einer Klassengesellschaft oder tatsächlich immer schon eine solche gewe- sen sei « (Müller et al. 2011: 3). Dieses Beispiel steht für eine auch in anderen Kontexten anzutreffende Diskussion einer (wieder stärkeren) Hinwendung zu wichtigen vertika- len Differenzierungen, Polarisierungen und Konfliktwahrnehmungen (dazu z. B. Faik/ Becker 2009) – teilweise verbunden mit einer Abwertung der Erklärungskraft z. B. von Lebensstilanalysen oder der Individualisierungsthese – sowie der Betonung einer wieder stärkeren Sichtbarkeit von Klassenstrukturen (vgl. Rehberg 2011). Dennoch drückt diese Diskussion keine Rückkehr zu alten Ansätzen mit ihren altbekannten Problemen aus, da sie sich mit differenzierten und komplexen sozialen Ungleichheiten in jedem Fall aus- einandersetzen muss. An Bedeutung gewinnt auch der Hinweis, Mechanismen der (Re-) Produktion sozialer Ungleichheit (wie z. B. Ausbeutung oder soziale Schließung) in die Analyse einzubeziehen (z. B. Diewald/Faist 2011; Solga et al. 2009: 19). So verändern sich im Zeitverlauf sowohl soziale Ungleichheiten selbst als auch der analytische Blick auf soziale Ungleichheiten. Daher bleiben für die Zukunft Herausfor- derungen für die Ungleichheitsforschung bestehen, die sich ebenso auf die zu Beginn dieses Beitrags genannten allgemeinen Fragen richten wie auch auf weitere Aspekte, so etwa dynamische und transnationale Perspektiven oder die Verknüpfung mit gesell- schaftstheoretischen Fragen. Ein historisch vergleichender Blick, der vor- und früh- modernen sozialen Ungleichheiten nicht unhinterfragt ein hohes Ausmaß an Stabilität unterstellt, könnte einen nützlichen Beitrag zu solch einer reflektierten Ungleichheits- analyse leisten. Die Ausführungen dieses Abschnitts bezogen sich auf die Situation und Zukunfts- perspektive der Ungleichheitsforschung und lassen erkennen, welche gesellschaftspoli- tische Relevanz die unterschiedlichen Blickwinkel auf soziale Ungleichheit haben. Ein
(Hrsg.): Gesellschaftliche Entwicklungen im Spiegel der empirischen Sozialforschung. Wiesbaden, 11 – 37. Diewald, Martin/Faist, Thomas (2011): Von Heterogenitäten zu Ungleichheiten. Soziale Me- chanismen als Erklärungsansatz der Genese sozialer Ungleichheiten. In: Berliner Jour- nal für Soziologie 21 (1), 91 – 114. Erikson, Robert/Goldthorpe, John H. (1992): The Constant Flux. A Study of Class Mobility in Industrial Societies. Oxford. Faik, Jürgen/Becker, Jens (2009): Wohlstandspolarisierung, Verteilungskonflikte und Ungleich- heitswahrnehmungen in Deutschland. In: SOEPpapers 256. Berlin. Friedrichs, Jürgen (Hrsg.) (1998): Die Individualisierungsthese. Opladen. Gebauer, Ronald/Salheiser, Axel (2008): Die Sozialstruktur der DDR im Kontext institutionel- len und generationalen Wandels. In: Rehberg, Karl-Siegbert (Hrsg.): Die Natur der Ge- sellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der DGS in Kassel 2006. Frankfurt/Main, 5213 – 5218. Geißler, Rainer (1992): Die Sozialstruktur Deutschlands. Opladen. Geißler, Rainer (1996): Kein Abschied von Klasse und Schicht. Ideologische Gefahren der deut- schen Sozialstrukturanalyse. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsycholo- gie 48 (2), 319 – 338. Geißler, Rainer (2002): Die Sozialstruktur Deutschlands. 3. Auflage. Wiesbaden. Geißler, Rainer (2011): Die Sozialstruktur Deutschlands – zur gesellschaftlichen Entwicklung mit einer Bilanz zur Vereinigung. 6. Auflage Wiesbaden. Georg, Werner (1998): Soziale Lage und Lebensstil. Eine Typologie. Opladen. Georg, Werner (Hrsg.) (2006): Soziale Ungleichheiten im Bildungssystem. Eine empirisch- theoretische Bestandsaufnahme. Konstanz. Goebel, Jan/Gornig, Martin/Häußermann, Hartmut (2010): Polarisierung der Einkommen: Die Mittelschicht verliert. In: DIW-Wochenbericht 24, 2 – 8. Groh-Samberg, Olaf (2009): Armut, soziale Ausgrenzung und Klassenstruktur. Wiesbaden. Groh-Samberg, Olaf/Hertel, Florian R. (2011): Laufbahnklassen. Zur empirischen Umsetzung eines dynamisierten Klassenbegriffs mithilfe von Sequenzanalysen. In: Berliner Journal für Soziologie 21 (1), 115 – 145. Groß, Martin (2008): Klassen, Schichten, Mobilität. Eine Einführung. Wiesbaden. Grusky, David B. (Hrsg.) (2008): Social Stratification. Class, Race and Gender in Sociological Perspective. Boulder. Hartmann, Michael (2004): Eliten in Deutschland. Rekrutierungswege und Karrierepfade. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B10, 17 – 24. Heinz, Walter R./Weymann, Ansgar/Huinink, Johannes (Hrsg.) (2009): The Life Course Rea- der: Individuals and Societies Across Time. Frankfurt/Main. Hradil, Stefan (1987): Sozialstrukturanalyse in einer fortgeschrittenen Gesellschaft. Opladen. Hradil, Stefan (2001): Soziale Ungleichheit in Deutschland. 8. Auflage. Wiesbaden. Kramer, Rolf-Torsten/Helsper, Werner (2010): Kulturelle Passung und Bildungsungleichheit – Potenziale einer an Bourdieu orientierten Analyse der Bildungsungleichheit. In: Krüger, Heinz-Hermann/Rabe-Kleberg, Ursula/Kramer, Rolf-Torsten/Budde, Jürgen (Hrsg.): Bildungsungleichheit revisited: Bildung und soziale Ungleichheit vom Kindergarten bis zur Hochschule. Wiesbaden, 103 – 125. Krause, Detlef (2007): » Soziale Ungleichheit «. In: Fuchs-Heinritz, Werner/Lautmann, Rüdiger/ Rammstedt, Otthein/Wienold, Hanns (Hrsg.): Lexikon zur Soziologie. 4. Auflage. Wies- baden, 686. Kronauer, Martin (2010): Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapi- talismus. 2. Auflage. Frankfurt/Main.
Lötsch, Ingrid/Meyer, Hansgünter (Hrsg.) (1998): Die Sozialstruktur als Gegenstand der Sozio- logie und der empirischen soziologischen Forschung: Beiträge zu einem Kolloquium in memoriam Manfred Lötsch. Berlin. Lutz, Helma/Herrera Vivar, Maria Teresa/Supik, Linda (Hrsg.) (2010): Fokus Intersektionalität: Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzeptes. Wiesbaden. Mau, Steffen/Verwiebe, Roland (2009): Die Sozialstruktur Europas. Konstanz. Mertens, Lothar (Hrsg.) (2002): Soziale Ungleichheit in der DDR. Zu einem tabuisierten Struk- turmerkmal der SED-Diktatur. Berlin. Müller, Hans-Peter/Schmid, Michael (Hrsg.) (2003): Hauptwerke der Ungleichheitsforschung. Wiesbaden. Müller, Hans-Peter/Reckwitz, Andreas/Weiß, Anja (2011): Editorial. In: Berliner Journal für So- ziologie 21 (1), 1 – 5. Münch, Richard (2009): Das Regime des liberalen Kapitalismus: Inklusion und Exklusion im neuen Wohlfahrtsstaat. Frankfurt/Main. Oesch, Daniel (2007): Soziale Schichtung in der Schweiz und in Deutschland. In: Widerspruch 27 (52), 59 – 74. Otte, Gunnar (2005): Hat die Lebensstilforschung eine Zukunft? In: Kölner Zeitschrift für So- ziologie und Sozialpsychologie 57 (1), 1 – 31. Parsons, Talcott (1940): Ansatz zu einer analytischen Theorie der sozialen Schichtung. In: ders.: Soziologische Theorie. Darmstadt, 180 – 205. Rehberg, Karl-Siegbert (2011): » Klassengesellschaftlichkeit « nach dem Ende der Klassengesell- schaft? In: Berliner Journal für Soziologie 21 (1), 7 – 21. Rössel, Jörg (2006): Kostenstruktur und Ästhetisierung. Zur Erklärungskraft von Lebensstilen. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 58 (3), 453 – 467. Rössel, Jörg (2009): Sozialstrukturanalyse. Eine kompakte Einführung. Wiesbaden. Schelsky, Helmut (1953): Die Bedeutung des Schichtungsbegriffes für die Analyse der gegen- wärtigen deutschen Gesellschaft. In: ders: Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammel- te Aufsätze. Düsseldorf, 331 – 336. Schmitt, Lars (2010): Bestellt und nicht abgeholt. Soziale Ungleichheit und Habitus-Struktur- Konflikte im Studium. Wiesbaden. Schulze, Gerhard (1992): Die Erlebnisgesellschaft. Frankfurt/Main. Solga, Heike (1995): Auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft? Klassenlagen und Mobili- tät zwischen Generationen in der DDR. Berlin. Solga, Heike/Powell, Justin/Berger, Peter A. (Hrsg.) (2009): Soziale Ungleichheit. Klassische Texte zur Sozialstrukturanalyse. Frankfurt/Main. Stichweh, Rudolf/Windolf, Paul (Hrsg.) (2009): Inklusion und Exklusion: Analysen zur So- zialstruktur und sozialen Ungleichheit. Wiesbaden. Vester, Michael (2010): » Orange «, » Pyramide « oder » Eieruhr «? Der Gestaltwandel der Berufs- gliederung seit 1990. In: Burzan, Nicole/Berger, Peter A. (Hrsg.): Dynamiken (in) der ge- sellschaftlichen Mitte. Wiesbaden, 55 – 78. Vester, Michael/von Oertzen, Peter/Geiling, Heiko/Hermann, Thomas/Müller, Dagmar (2001): Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Aus- grenzung. Frankfurt/Main. Weber, Max (1980): Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehenden Soziologie. 5. Auf- lage. Tübingen. Winker, Gabriele/Degele, Nina (2009): Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichhei- ten. Bielefeld. Wright, Erik Olin (1985): Wo liegt die Mitte der Mittelklasse? In: PROKLA 15 (58), 35 – 62.