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Leitfäden und Tipps
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Unterschiede, die einen Unterschied machen. Theorien von Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann, Skripte von Soziologie

Manuskript für das Buch „Luhmann- Bourdieu. Ein Theorievergleich“ - Armin Nassehi und Gerd Nollmann.

Art: Skripte

2019/2020

Hochgeladen am 15.04.2020

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Unterschiede, die einen Unterschied machen.
Klassenlagen in den Theorien von Pierre Bourdieu
und Niklas Luhmann
Anja Weiß
Manuskript für das Buch „Luhmann- Bourdieu. Ein Theorievergleich“
herausgegeben von Armin Nassehi und Gerd Nollmann. Frankfurt/M.: Suhrkamp
1. Die Ausdifferenzierung des Ungleichheitsbegriffs..............................................................................4
2. Sozialstruktur und Klassenbildung ......................................................................................................7
3. Modi der Abweichungsverstärkung...................................................................................................11
4. Strukturbildung durch Herrschaft ......................................................................................................16
5. Schlussbemerkung .............................................................................................................................19
Literatur .................................................................................................................................................20
Menschen können in vieler Hinsicht verschieden sein. Sie können braune oder rote Haa-
re haben, groß oder klein, reich oder arm sein, sich einen Doktortitel oder ein Motorrad
wünschen. Die meisten dieser Unterschiede sind sozial in irgendeiner Weise relevant.
Die Ungleichheitsforschung interessiert sich nur für diejenigen Unterschiede, die für die
Lebenschancen der klassifizierten Personen entscheidend sind.
Bei einigen Unterschieden ist eine hierarchische Strukturierung unmittelbar einleuch-
tend: Menschen verdienen mehr oder weniger, besitzen nichts oder ein Haus, sind ge-
bildet oder ungebildet. Andere Differenzen bezeichnen im Prinzip Gleichrangiges:
Christen, Juden oder Muslime, Männer oder Frauen, Deutsche, Türken oder Chinesin-
nen. Auch aus solchen Unterscheidungen können Hierarchien werden, wenn sie regel-
mäßig ungleich bewertet werden. Für Türken ist der Zugang zum deutschen Arbeits-
markt stark erschwert. Frauen werden zwar häufig Mutter, erreichen aber selten gut be-
zahlte Führungspositionen.
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Wenn man sich auf alle Unterschiede konzentriert, die auf die eine oder andere Weise
soziale Ungleichheiten hervorbringen, liegt eine Frage auf der Hand. Heben sich die
Ungleichheiten wechselseitig auf oder wirken sie so zusammen, dass sich strukturierte
soziale Ungleichheit herausbildet? Oder auch: „Was spricht [...] dagegen, dass Nobel-
preisträger sich selbst die Schuhe putzen müssen und ihre Freunde auf ihrem Sofa schla-
fen lassen“ (Luhmann 1985: 145)? Im Gefolge von Marx konnte die Soziologie die Fra-
ge nach der Ordnung hinter den Ungleichheiten klar beantworten. Marx unterschied
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Unterschiede, die einen Unterschied machen.

Klassenlagen in den Theorien von Pierre Bourdieu

und Niklas Luhmann

Anja Weiß

Manuskript für das Buch „Luhmann- Bourdieu. Ein Theorievergleich“ herausgegeben von Armin Nassehi und Gerd Nollmann. Frankfurt/M.: Suhrkamp

  1. Die Ausdifferenzierung des Ungleichheitsbegriffs ..............................................................................
  2. Sozialstruktur und Klassenbildung ......................................................................................................
  3. Modi der Abweichungsverstärkung ...................................................................................................
  4. Strukturbildung durch Herrschaft ......................................................................................................
  5. Schlussbemerkung ............................................................................................................................. Literatur .................................................................................................................................................

Menschen können in vieler Hinsicht verschieden sein. Sie können braune oder rote Haa- re haben, groß oder klein, reich oder arm sein, sich einen Doktortitel oder ein Motorrad wünschen. Die meisten dieser Unterschiede sind sozial in irgendeiner Weise relevant. Die Ungleichheitsforschung interessiert sich nur für diejenigen Unterschiede, die für die Lebenschancen der klassifizierten Personen entscheidend sind. Bei einigen Unterschieden ist eine hierarchische Strukturierung unmittelbar einleuch- tend: Menschen verdienen mehr oder weniger, besitzen nichts oder ein Haus, sind ge- bildet oder ungebildet. Andere Differenzen bezeichnen im Prinzip Gleichrangiges: Christen, Juden oder Muslime, Männer oder Frauen, Deutsche, Türken oder Chinesin- nen. Auch aus solchen Unterscheidungen können Hierarchien werden, wenn sie regel- mäßig ungleich bewertet werden. Für Türken ist der Zugang zum deutschen Arbeits- markt stark erschwert. Frauen werden zwar häufig Mutter, erreichen aber selten gut be- zahlte Führungspositionen.

Wenn man sich auf alle Unterschiede konzentriert, die auf die eine oder andere Weise soziale Ungleichheiten hervorbringen, liegt eine Frage auf der Hand. Heben sich die Ungleichheiten wechselseitig auf oder wirken sie so zusammen, dass sich strukturierte soziale Ungleichheit herausbildet? Oder auch: „Was spricht [...] dagegen, dass Nobel- preisträger sich selbst die Schuhe putzen müssen und ihre Freunde auf ihrem Sofa schla- fen lassen“ (Luhmann 1985: 145)? Im Gefolge von Marx konnte die Soziologie die Fra- ge nach der Ordnung hinter den Ungleichheiten klar beantworten. Marx unterschied

nach der Position in den Produktionsverhältnissen und leitete die soziale Klassenbil- dung und die Lebensführung weitgehend von ihr ab. Entsprechend spaltet sich die Marx’sche Klassengesellschaft in eine herrschende Klasse, die über die Produktionsmit- tel verfügt, und in eine ausgebeutete Klasse, die die eigene Arbeitskraft verkauft.

Heute widerstrebt schon der empirische Augenschein der Annahme einer polarisierten Klassengesellschaft. Die meisten Industrieländer lassen sich als Mittelschichtsgesell- schaften bezeichnen, in denen sich quantitativ kleine Ober- und Unterschichten allen- falls graduell von der Bevölkerungsmehrheit abheben (vgl. für Deutschland Geißler 2002). Bereits Max Weber hatte ein halbes Jahrhundert nach Marx zwischen diversen von Marktpositionen abgeleiteten Klassen unterschieden, und betont, dass diese nicht notwendig mit den Ständen, in die sich die Lebensführung gliedert, zur Deckung zu bringen sind (Weber 1980). Pierre Bourdieus Beitrag zur Ungleichheitssoziologie folgt in vielem Max Weber. Er spricht zwar von Klassen, betont jedoch, dass es sich um „Klassen auf dem Papier“ handele, die die Soziologie aus der Verteilung mehrerer Ka- pitalsorten rekonstruiert und die nicht notwendig in soziale Klassenbildung münden müssen (Bourdieu 1985). Individualisierungstheoretische Ansätze verzichten schließlich ganz auf „Klasse und Stand“ (Beck 1983). Die Pluralisierung der Lebensführung in Konsumgesellschaften entziehe sich einer Beschreibung durch überkommene sozial- strukturelle Kategorien.

Schon ein oberflächlicher Blick auf ungleichheitssoziologische Theoriebildung kann drei Problembereiche identifizieren.

(1) Erstens wurde seit Weber darüber diskutiert, wie man die Heterogenität und Mehr- dimensionalität sozialer Ungleichheiten umfassend und zugleich begrifflich sparsam fassen könnte.

(2) Zweitens ist umstritten, ob trotz einer Vielzahl sozialer Ungleichheiten noch soziale Lagen bzw. in sich konsistente Klassenlagen erkennbar sind. Becks Absage an Klassen- bildung insgesamt hat entschiedene Repliken ausgelöst (Geißler 1996).

(3) Ist man jedoch der Ansicht, dass eine Vielzahl als heterogen gedachter Ungleichhei- ten in Klassenbildung mündet oder zumindest eine Rekonstruktion von „Klassen auf dem Papier“ möglich sein sollte, so ist drittens die Frage offen, ob soziale Ungleichheit als die primäre Strukturdimension moderner Gesellschaften angesehen werden soll, ob wir gar in einer Klassengesellschaft leben.

gebildete weniger verdienen, bzw. dass Menschen ohne Pass Schwierigkeiten bei der Eheschließung oder Einschulung haben. Im vierten Teil wird vorgeschlagen, Herr- schaftsverhältnisse wieder stärker in die Klassenanalyse einzubinden. Nicht nur die Or- ganisation von Interessen, – also die Bildung sozialer Klassen – sondern auch die Ab- weichungsverstärkung zwischen als heterogen gedachten Dimensionen sozialer Un- gleichheit – also die Entstehung von Klassenlagen – werden durch willkürliche kulturel- le Klassifikationen bzw. Semantiken strukturiert.

1. Die Ausdifferenzierung des Ungleichheitsbegriffs

Bei Bourdieu liegt Ungleichheit der sozialen Welt insgesamt zu Grunde. Die Gesell- schaft entfaltet sich nicht zufällig, sondern im Rahmen ihrer historisch (und damit auch herrschaftsförmig) hervorgebrachten Möglichkeiten. Die Chancen, diese Möglichkeiten zu nutzen, sind ungleich auf Individuen und Gruppen verteilt und werden von Bourdieu als Mehrzahl von Kapitalsorten benannt. „Kapital ist akkumulierte Arbeit, entweder in Form von Materie oder in verinnerlichter, ‚inkorporierter’ Form. (...) Als vis insita ist Kapital eine Kraft, die den objektiven und subjektiven Strukturen innewohnt; gleichzei- tig ist das Kapital – als lex insita – auch grundlegendes Prinzip der inneren Regelmä- ßigkeiten der sozialen Welt“ (Bourdieu 1983: 183). Die Ergebnisse von Arbeit im wei- testen Sinne lassen sich nicht nur in Form von Geld und Eigentum, d.h. von ökonomi- schem Kapital, akkumulieren. Diejenigen, die über gutes Benehmen, Wissen und Bil- dungstitel verfügen, also über inkorporiertes, objektiviertes und institutionalisiertes kul- turelles Kapital, können ähnlich wie die Besitzer von Eigentum einen größeren Teil der gesellschaftlich hervorgebrachten Werte für sich in Anspruch nehmen. Ebenso haben Menschen Vorteile, die hohes soziales Kapital (z.B. ein einflussreiches Netzwerk wech- selseitiger sozialer Verpflichtungen) besitzen. Mit den Kapitalsorten ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital benennt Bourdieu zentrale Ungleichheiten im Frankreich der 70er Jahre. In anderen Gesellschaften können weitere Unterscheidungslinien an ihre Stelle treten. Zum Beispiel ist in staatssozialisti-

schen Gesellschaften das politische Kapital von zentraler Bedeutung (Bourdieu 1991a).

Es geht Bourdieu also nicht um bestimmte Inhalte, sondern um das, wodurch in einer Gesellschaft Arbeit akkumuliert und Chancen strukturiert werden. Außerdem betont Bourdieu, dass der Wert des Kapitals von dessen Anerkennung abhängt. Zum Beispiel kann kulturelles Kapital ganz unterschiedlich ausgestaltet werden, je nachdem welche kulturellen Inhalte in einer Gesellschaft als besonders hochstehend gelten. Marceau zeigt, dass deutsche Absolventen der französischen Elitehochschule INSEAD zuvor

überwiegend Jura studiert hatten, während sich die französischen Absolventen durch technische Studiengänge und die britischen durch „Klassisches“ bzw. Sprachen für eli- täre Positionen empfahlen (Marceau 1989). Die Bedeutung der Anerkennung für den Wert von Kapital fasst Bourdieu u.a. mit dem Begriff des symbolischen Kapitals. Sym- bolisches Kapital bezeichnet einerseits die Wertsteigerung, die ein bestimmtes Kapital durch allgemeine Akzeptanz erfährt. Symbolisches Kapital kann aber auch eine eigen- ständige Bedeutung als Prestige einer Person oder Gruppe erlangen (Mörth, Fröhlich 1994). Eine Ausdifferenzierung des Ungleichheitsbegriffs ergibt sich bei Bourdieu erstens durch die im Prinzip nach oben offene Vielfalt von Kapitalsorten. Hier ist jede Art von Gegenläufigkeit und Inkonsistenz denkbar: die Neureiche, die mangels Manieren in feinen Restaurants nur Demütigungen erlebt, der Spross einer alteingesessenen Fabri- kantenfamilie, dem es an Bildung mangelt, der promovierte Taxifahrer oder die Prosti- tuierte, die ihre sozialen Kontakte mangels Legitimität nicht nutzen kann. Im „Elend der Welt“ ist den „Widersprüchen des Erbes“ ein ganzes Kapitel gewidmet (Bourdieu 1998a).

Zweitens verliert die soziale Relevanz des Kapitals dadurch an Eindeutigkeit, dass sich die Gesellschaft in relativ autonome Felder unterteilt, in denen die Kapitalsorten unter- schiedlich wertvoll sind. Im wissenschaftlichen Feld ist z.B. ökonomisches Kapital im Vergleich zum kulturellen nachrangig. Das politische Feld bringt ein eigenes politisches Kapital hervor, dessen Wert sich – außerhalb von staatssozialistischen Gesellschaften – auf das politische Feld beschränkt. „Jede Art von Kapital ist an ein Feld gebunden und hat die gleichen Gültigkeits- und Wirksamkeitsgrenzen wie das Feld, in dem es Geltung hat“ (Bourdieu 2001a: 52).

Bourdieu streicht zwar die grundsätzliche Autonomie von Feldern heraus. Dennoch werden Felder von den Strukturen eines übergreifenden Raums relationaler Ungleich- heiten mit bestimmt (Bourdieu 2001a). Zum Beispiel können die Zugangschancen zu einem Feld davon abhängen, welche Position Anwärter im sozialen Raum einnehmen. Luhmanns Theorie funktional differenzierter Gesellschaften zeichnet sich hingegen da- durch aus, dass sich Ungleichheiten, die hinsichtlich eines Funktionssystems entstehen, im Regelfall nicht auf die Position in einem anderen übertragen. „Eine funktional differenzierte Gesellschaft ist in der Lage, extreme Ungleichheiten in der Verteilung öffentlicher und privater Güter zu erzeugen und zu tolerieren, aber von der Semantik dieser Gesellschaft her steht dieser Effekt unter zwei Beschrän- kungen: dass er als nur temporär gesehen wird und sich rasch ändern kann; und dass

ralisierung ungleichheitsrelevanter Kapitalsorten (Bourdieu) bzw. eine Ausdifferenzie- rung von Teilaspekten der Person hinsichtlich ihrer Relevanz für Funktionssysteme (Luhmann). Zum anderen wird die Heterogenität der Umwelten, in denen Kapital bzw. relevante Teilaspekte der Person zum Einsatz kommen, ausformuliert. Bei Luhmann entscheiden Funktionssysteme darüber, welche Teilaspekte einer Person für sie an- schlussfähig sind. Bei Bourdieu sind Felder in ähnlicher Weise selektiv.

2. Sozialstruktur und Klassenbildung

Angesichts der konzeptionellen Ausdifferenzierung sozialer Ungleichheiten könnte man sich natürlich damit bescheiden, sie einfach in ihrer Vielfalt zu benennen. Damit würde man aber jeglichen Anspruch auf Sozialstrukturanalyse aufgeben. Soziale Ungleichhei- ten können nur dann als wesentlicher Bestandteil einer Gesellschaftsanalyse gelten, wenn sich wichtige von unwichtigen Ungleichheiten unterscheiden lassen, wenn man also weiß, welche Unterschiede warum in ungleiche Lagerungen münden, die einzelne Funktionssysteme oder Felder übergreifen. Eine mehrdimensional angelegte Sozial- strukturanalyse würde darauf abzielen, eine Schichtung der Gesellschaft entlang sozial relevanter Merkmale nachzuweisen.^1 Stefan Hradil schlägt den Begriff der sozialen La- ge vor, um die „’objektiv’ ungleichen Lebens- und Handlungsbedingungen“ (Hradil 1987: 146) zu benennen, unterstellt aber bewusst keine Statuskonsistenz zwischen den verschiedenen Dimensionen sozialer Ungleichheit (ebd.: 148f.). Soll darüber hinausge- hend von Klassen bildung die Rede sein, so wäre zu zeigen, dass eine Mehrzahl sozialer Ungleichheiten längerfristig in eine ähnliche Richtung weist. Denn nur dann ist zu er- warten, dass sich soziale Lagen zu in sich konsistenten Klassen lagen entwickeln.^2

Bourdieu bearbeitet das Problem der Klassenbildung in mehreren Schritten. Zum einen verabschiedet er sich vom Gedanken eines explizit politisierten Klassenbewusstseins und „ersetzt“ dieses durch das Habituskonzept. Als körperliche, praktische und kogniti- ve Perspektive auf die Welt spiegelt der Habitus die Handlungsspielräume wider, die durch eine bestimmte Kapitalausstattung eröffnet werden (Bourdieu 1987). Zum Bei- spiel entwickeln diejenigen, denen es langfristig an Geld mangelt, einen Habitus der

(^1) Für eine Diskussion des Begriffs „Sozialstruktur“ siehe Geißler 2002: 19ff. (^2) Das vorgeschlagene Konzept der Klassenlage unterscheidet sich v.a. hinsichtlich der Anforderung, dass inhaltliche Gründe für Statuskonsistenz nachgewiesen werden sollten, von Hradils „Sozialer Lage“. Auf eine Auseinandersetzung mit Hradils Kritik an Klassenkonzepten (Hradil 1987: 69ff) wird hier verzichtet, weil Bourdieu die kritisierten Theorien deutlich modifiziert.

Notwendigkeit. Wer hohes kulturelles, aber niedriges ökonomisches Kapital besitzt, wird Markenkleidung „uncool“ und Second Hand-Kleidung „kultig“ finden. Damit ist nicht gesagt, dass sich Menschen mit ähnlichem Habitus nun als soziale Klasse begrei- fen. Eine soziale Klassenbildung wird zwar wahrscheinlicher, wenn sie sich auf Ge- meinsamkeiten im Habitus bezieht (Bourdieu 1985, Bourdieu 1992). Letztlich werden soziale Klassen aber erst durch einen Akt der Repräsentation im Rahmen symbolischer Kämpfe gebildet.

Die Vielzahl „feiner Unterschiede“ im Habitus nutzt Bourdieu dann als Ausgangspunkt seiner Klassentheorie (Bourdieu 1982). Mit Hilfe multivariater Korrespondenzanalysen zeigt er, wie sich die Beziehungen zwischen zahlreichen Merkmalen deskriptiv abbilden und auf objektiv ähnliche Lebenschancen zurückführen lassen. In der soziologischen Beobachtung werden „theoretische Klassen“ als Cluster von Menschen mit ähnlicher Kapitalausstattung erkennbar. „Konstruiert man den sozialen Raum (...) gewinnt man damit zugleich auch die Mög- lichkeit, theoretische Klassen von größtmöglicher Homogenität in bezug auf die bei- den Hauptdeterminanten der Praktiken und aller sich aus ihnen ergebenden Merkmale zu konstruieren. Das so angewendete Klassifizierungsprinzip ist wirklich explikativ : Es belässt es nicht bei einer Beschreibung der Gesamtheit der klassifizierten Realitä- ten, sondern setzt, wie jede gute naturwissenschaftliche Taxonomie, bei den bestim- menden Merkmalen an, von denen aus im Gegensatz zu den schlechten, von den scheinbaren Unterschieden ausgehenden Klassifikationen eine Vorhersage weiterer Merkmale und die Unterscheidung und Zusammenfassung von Akteuren möglich ist, die einander so ähnlich wie möglich und von den Mitgliedern der anderen Klassen, ob näher oder ferner stehend, so verschieden wie möglich sind“ (Bourdieu 1998b: 23).

Der von Bourdieu konstruierte soziale Raum ist auf der ersten Achse durch ungleiche Kapitalvolumina strukturiert. Auf einer zweiten Achse wird die Zusammensetzung des Kapitals und hier insbesondere das Verhältnis zwischen ökonomischem und kulturellem Kapital abgebildet. Drittens ist die Laufbahn von Belang, die sich allerdings mit den von Bourdieu verwendeten synchronen Daten nur begrenzt belegen lässt (vgl. Bourdieu 1982).

Bourdieu verzichtet auf den Anspruch, dass sich theoretische Klassen zwangsläufig in sozialer Klassenbildung abbilden müssen. Er zeigt empirisch, dass sich eine Vielzahl

übrigen Faktoren (Alter, Geschlecht, Wohnort etc.) abhängigen Praktiken erst ihre spezifische Form und Geltung“ (Bourdieu 1982: 184f).

Selbst wenn man Klassenlagen nur theoretisch rekonstruieren will, muss man voraus- setzen, dass eine Vielzahl von Unterschieden nicht unabhängig voneinander verläuft, sondern in eine oder wenige Richtungen weist. Eine Ungleichheitstheorie, die die Hete- rogenität von Ungleichheitsdimensionen akzeptieren und erfassen kann, sollte sich nicht damit begnügen, eine „Überdetermination“ zu behaupten bzw. empirisch zu belegen. Vielmehr wäre genauer zu klären, wie Zusammenhänge zwischen diversen Ungleichhei- ten so gedacht werden können, dass eine Herausbildung von Klassenlagen wahrschein- lich wird.

Es ist dieses theoretische Defizit, das Luhmann an den Klassentheorien kritisiert. Er zeigt zunächst, dass die Annahmen über niedrigdimensionale Ursachen von Ungleich- heit bei den klassischen Theorien zu ungewünschten Verkürzungen führen (Luhmann 1985: 144). Bei Bourdieu könnte man den Mechanismus der Klassenbildung z.B. darauf zurückführen, dass man die Heterogenität der Kapitalsorten als unterschiedliche Formen der Akkumulation von Arbeit interpretiert. Eine innere Verbindung zwischen den Kapi- talsorten ließe sich u.a. daran ablesen, dass sie sich mit Verlusten ineinander transfor- mieren lassen (Bourdieu 1983). Eine solche Argumentation würde jedoch den Vorteil mehrdimensional angelegter Ungleichheitstheorien verspielen. Man müsste Klassenver- hältnisse auf eine letztgültige Ursache zurückführen und genau dies ist von Bourdieu nicht gewollt.

Geht man hingegen davon aus, dass Ungleichheiten durch heterogene Ursachen zustan- de kommen können, ist theoretisch offen, wie es trotz einer grundsätzlichen Verschie- denheit von Ungleichheiten zu einer Klassenbildung kommen kann. „Ganz abstrakt kann das Problem als ein Problem der Abweichungsverstärkung oder der Steigerung von Ungleichheit in mehreren Dimensionen zugleich umschrieben werden. Es geht also nicht um Chancengleichheit schlechthin, also nicht darum, (...) dass von zwei Bewerbern um Kredit derjenige die besseren Aussichten hat, der über mehr oder über sichereres Einkommen verfügt; oder dass die Schulerziehung diejeni- gen Schüler besser fördern kann, die schon mehr gelernt haben. Das Problem liegt in der Bündelung und in der wechselseitigen Verstärkung solcher Tendenzen zum Auf- bau von Ungleichheiten. Es sind nicht die Ungleichheiten als solche, sondern ihre In-

terdependenzen, die als ‚Klasse’ (oder wie immer sonst) identifiziert werden“ (Luh- mann 1985: 144).

Mit seiner Kritik bringt Luhmann die Problematik vieler Klassentheorien auf den Punkt. Sie müssen entweder voraussetzen, dass Ungleichheit so eindimensional strukturiert ist, dass die Zwangsläufigkeit einer Klassenbildung kaum von der Hand zu weisen ist. In diesem Fall sehen sie sich aber außerstande, diverse Ursachen von Ungleichheit, wie z.B. geschlechtsspezifische Ungleichheiten oder ethnische Machtasymmetrien angemes- sen zu berücksichtigen (Weiß et al. 2001). Oder sie gehen wie die Mehrzahl neuerer Theorien davon aus, dass Ungleichheit auf unterschiedlichen Wegen entstehen kann. Dann ist zu klären, wie diverse Ungleichheiten aneinander anknüpfen und sich zu theo- retisch rekonstruierbaren Klassenlagen verdichten können.

3. Modi der Abweichungsverstärkung

In funktional differenzierten Gesellschaften müssen fortbestehende Ungleichheiten nicht zwangsläufig in die Bildung sozialer Klassen münden (Luhmann 1985: 146). Re- duziert man die Anforderungen an eine Klassentheorie und sucht wie Bourdieu nach mehrdimensional strukturierten, aber in sich konsistenten Klassenlagen, so lässt sich Luhmanns Kritik konstruktiv aufgreifen. Im folgenden soll dann von Klassenlagen^4 die Rede sein, wenn sich ein Modus der Abweichungsverstärkung zwischen heterogenen Ungleichheitsdimensionen benennen lässt, durch den soziale Lagen Konsistenz erlan- gen.

Innerhalb der Systemtheorie werden diverse Modi der Abweichungsverstärkung disku- tiert. „Die moderne Gesellschaft ist in der Tat hochintegriert, aber nur in ihrem Exklusi- onsbereich, nur als Negativ-Integration und vor allem: ohne Konsens“ (Luhmann 1996: 229). Im Unterschied zu Inklusionschancen, die im Regelfall einer funktional differen- zierten Gesellschaft nur lose gekoppelt sind, müssen sich Exklusionen fast zwangsläufig wechselseitig verschärfen: „[W]er keinen Ausweis hat, ist von Sozialleistungen ausge- schlossen, kann nicht wählen, kann nicht legal heiraten“ (Luhmann 1995: 259f). „Denn die faktische Ausschließung aus einem Funktionssystem (...) beschränkt das, was in anderen Systemen erreichbar ist und definiert mehr oder weniger große Teile der Bevölkerung, die häufig dann auch wohnmäßig separiert und damit unsichtbar

(^4) Bei der Darstellung systemtheoretischer Ansätze wird deren Begrifflichkeit (z.B. Exklusionsbereich, Inklusionslage) übernommen.

internationaler Klassenherrschaft (vgl. Luhmann 1995: 259). Eine solche Bedeutung des Exklusionsbereichs erschwert es jedoch, die These vom Primat funktionaler Differen- zierung aufrecht zu erhalten. „Es versteht sich von selbst, dass die funktionale Differenzierung ihren Exklusions- bereich nicht ordnen kann, obwohl sie sich auf Grund ihres gesellschaftsuniversalen Selbstverständnisses auch auf ihn erstreckt (...). Diese Logik der funktionalen Diffe- renzierung gerät aber in Widerspruch zu den Tatsachen der Exklusion. (...) Ihre Co- des gelten und gelten nicht in derselben Gesellschaft. Und daraus kann man (...) den Schluss ziehen, dass die Gesellschaft durch die Unterscheidung von Inklusion (mit loser Integration) und Exklusion (mit fester Integration) ‚supercodiert’ ist und man sich faktisch zunächst immer erst an diesem Unterschied orientieren muss, wenn man sich zurechtfinden will“ (Luhmann 1995: 260).

Hier merkt Luhmann selbst den Bedarf für weitere Forschung an. Er betont, dass man die Gesellschaft nicht nur an Hand einer Unterscheidung beschreiben sollte (vgl. Luh- mann 1995: 263), kann aber nicht abschließend klären, wie die Unterscheidung von Inklusion und Exklusion mit dem Primat funktionaler Differenzierung kompatibel ist.

Eine zweite Unschärfe betrifft die empirische Relevanz des Exklusionsbegriffs. „Wenn Inklusion (...) nichts anderes bedeutet als die Art und Weise, wie soziale Systeme Men- schen bezeichnen (...), sie sichtbar machen, bezeichnet Exklusion den Mechanismus, wie Personen nicht bezeichnet und nicht für relevant gehalten werden. Exkludierte dürf- ten genaugenommen gar nicht sichtbar sein“ (Nassehi 2000: 19). Da Kommunikation in der funktional differenzierten Weltgesellschaft fast jeden erreicht, könnten Personen nur als Tote exkludiert werden. Umgekehrt muss Inklusion nicht unbedingt ein Vorteil sein (Nollmann 1997: 199ff.). Schließlich ist ein zum Offenbarungseid gezwungener Schuldner ebenso eindeutig ins Wirtschaftssystem inkludiert wie eine Großanlegerin. Die dichotomisch angelegte Begrifflichkeit von Inklusion und Exklusion meint gerade kein Mehr oder Weniger an Leistungen. Insofern kann und soll sie nicht an die Stelle des Ungleichheits- oder Armutsbegriffs treten. Vielmehr ist das Verhältnis zwischen der Exklusions-/Inklusionsbegrifflichkeit und dem Problem sozialer Ungleichheit zu klären.

Hierzu liegen in der neueren systemtheoretischen Diskussion eine Reihe von Ansätzen vor, die hier nicht umfassend, sondern nur unter dem Gesichtspunkt der Abweichungs- verstärkung diskutiert werden können. Schwinn schlägt vor, soziale Ungleichheit neben sozialer Differenzierung als eigenständiges Strukturprinzip der Gesellschaft zu begrei-

fen (Schwinn 2000, Schwinn 1998). Dadurch, dass Individuen in ihrem Leben eine Rei- he von Ordnungen durchlaufen, komme es zu Leistungsabhängigkeiten zwischen den Funktionssystemen. „So können wissenschaftliche und ökonomische Institutionen nur in Austausch treten, wenn Kohorte für Kohorte Menschen in Bildungseinrichtungen Wis- sen erwerben, das sie in späteren Phasen ihres Lebens als Arbeitskompetenz zur Verfü- gung stellen“ (Schwinn 2000: 473). Wenn man diese Leistungsabhängigkeiten benennt, „erweisen sich drei Machtressourcen als in besonderer Weise ungleichheitsrelevant und konvertibel: Wissen und damit verbundene Deutungskompetenz, ökonomische Markt- chancen und politische Macht“ (Schwinn 2000: 472).^7

Wenn sich systemtheoretische Arbeiten mit Leistungsabhängigkeiten zwischen den Funktionssystemen beschäftigen, sind ihre konkreten Erkenntnisse oft mit ungleich- heitssoziologischem Gedankengut kompatibel. So lassen sich die Schwinn’schen Machtressourcen leicht mit den Bourdieu’schen Kapitalsorten zur Deckung bringen. Für die Systemtheorie ist eine Auseinandersetzung mit neueren ungleichheitssoziologischen Arbeiten^8 u.a. deshalb naheliegend, weil diese ebenfalls für eine Mehrdimensionalität (Hradil 1987) und Verzeitlichung (Berger, Sopp 1995) sozialer Ungleichheit plädieren. Umgekehrt könnte auch die Ungleichheitssoziologie von systemtheoretischem Denken profitieren. Hätte sich Bourdieu Luhmanns Frage nach einer Abweichungsverstärkung zwischen verschiedenen Ungleichheiten gestellt, hätte er vielleicht die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Feldern präziser beschreiben können. Schwinn argumentiert z.B., dass sich manche Ungleichheiten (z.B. der Bildung) als breit ausstrahlend erwei- sen, während andere (z.B. künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten) auf ein bestimmtes Feld beschränkt bleiben (vgl. Schwinn 2000: 476).^9 Die Bourdieu’sche Privilegierung von ökonomischem und kulturellem Kapital müsste nicht einfach als Primat der Öko- nomie behauptet oder empirisch abgeleitet werden, sondern sie ließe sich argumentativ

(^7) Luhmann nennt die Mechanismen Geld, Karrieren und Prominenz (Luhmann 1985: 147ff.). (^8) Diese erfolgt z.B. auch bei Nassehi 1997 und Kurtz 2002. (^9) Auch Stichweh geht verschiedene Funktionssysteme unter dem Gesichtspunkt durch, welche Exklusio- nen sich auf andere Funktionssysteme übertragen (Stichweh 1997: 128ff). Wie Luhmann versäumt er es aber, den Exklusionsbegrriff eindeutig von mangelhafter sozialer Integration zu unterscheiden (zur Kritik vgl. [=3305 - Nassehi 1997 Inklusion, Exklusion...=]).

(sozial-)raumbezogene Exklusionen als funktionales Äquivalent einer auf den Leis- tungsbereich bezogenen Klassenbildung behandelt.

An dieser Stelle bietet sich eine erneute Beschäftigung mit der Ausgangsfrage an: Wenn sich der Ungleichheitsbegriff sowohl hinsichtlich seiner Inhalte als auch hinsichtlich seines Bezugs auf Teilsysteme oder Felder ausdifferenzieren lässt – worüber sich Bour- dieu und Luhmann ja einig sind – wie kann die Abweichungsverstärkung zwischen ei- ner Vielzahl von Ungleichheiten und zwischen Teilsystemen bzw. Feldern gedacht wer- den? Luhmann vermutet eine starke Integration dort, wo es zu Rückkoppelungsbezie- hungen zwischen Exklusionen kommt. In diesem Zusammenhang wäre zu prüfen, ob sich an den Rändern der Weltgesellschaft konsistentere Klassenlagen herausbilden, als in ihrem statusinkonsistenten Inneren. Man könnte beispielsweise untersuchen, inwie- fern Personen, deren ökonomische Aktivitäten sich überwiegend auf die informelle Wirtschaft beschränken (müssen) (Altvater, Mahnkopf 2002¸ Komlosy, Parnreiter, Zimmermann 1997), auch in ihrer sonstigen Lebensführung grundsätzlich anders gela- gert sind als „Legale“. Allerdings ist der Begriff des Exklusionsbereichs bisher unscharf geblieben. Viel spricht dafür, ihn nicht als Exklusion aus der Gesellschaft insgesamt, sondern als Exklusion aus bestimmten Teilsystemen oder Organisationen zu begreifen (Nollmann 1997: 195ff.).

Schwinn argumentiert dafür, Leistungsabhängigkeiten zwischen Teilsystemen genauer zu untersuchen. Im Zeitverlauf schaffen positive Erträge in bestimmten Funktionssys- temen die Voraussetzung für Erfolge in anderen Feldern. Diese Position ist gut mit der Bourdieu’schen Klassentheorie wie auch anderen ungleichheitssoziologischen Arbeiten kompatibel. Bommes zeigt schließlich, warum die territoriale Segmentierung des Teil- systems Politik auf die anderen Teilsysteme ausstrahlt. Die strukturellen Besonderheiten in der Lage von Migrationsbevölkerungen sind empirisch gut belegt wie theoretisch ausführlich diskutiert worden (Hoffmann-Nowotny 1970, Kalter 2003). Die Bom- mes’sche Reinterpretation dieser Befunde eröffnet die Möglichkeit, die soziale Lage von Migrationsbevölkerungen als Klassenlage im weiteren Sinne zu begreifen. Damit schließt sich der Kreis zu Luhmann, der regionale Disparitäten als funktionales Äquiva- lent der Klassenbildung bezeichnet hat.

4. Strukturbildung durch Herrschaft

Alle genannten Theorien setzen eine gewisse Rationalität der Abweichungsverstärkung voraus: Die Luhmannschen Funktionssysteme sind auf Mindestvoraussetzungen in der

Person angewiesen, die sie teilinkludieren. Bei Schwinn und Bourdieu wird dem, der hat, gegeben. Klassenlagen können aber auch durch willkürliche bzw. durch herr- schaftsförmige Abweichungsverstärkung konsistent werden. In seinen Arbeiten über männliche Herrschaft (Bourdieu 2001b) zeigt Bourdieu, wie sich aus kontingenten Klassifikationen ungleiche Praktiken entwickeln. „Die symbolische Effizienz des nega- tiven Vorurteils , in der sozialen Ordnung gesellschaftlich institutionalisiert, rührt zum großen Teil daher, dass es sich aus eigener Kraft bestätigt“ (Bourdieu 1997: 162). Ge- schlechtsspezifische Praktiken verfestigen sich auf Dauer zu symbolischer Macht (Bourdieu, Passeron 1973; Bourdieu 1992), die in objektive (z.B. die geschlechtsspezi- fische Arbeitsteilung) wie subjektive Strukturen (z.B. den Habitus) eingeschrieben ist. „Die symbolische Macht ist eine Macht, die jedes Mal ausgeübt wird, wenn eine Macht (oder ein Kapital) ökonomischer oder auch physischer (die Kraft als Zwangsin- strument), kultureller oder sozialer Art in die Hände von Agenten gelangt, deren Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien den Strukturen dieser Macht (...) ange- passt sind und die daher dazu neigen, sie als natürlich, als selbstverständlich wahrzu- nehmen und die ihr zugrundeliegende willkürliche Gewalt zu verkennen, sie also als legitim anzuerkennen. Die symbolische Macht, das Wort sagt es, steht in einer ande- ren Dimension als die anderen Machtformen; sie funktioniert in der Ordnung des Kennens (was nicht heißt, des Bewusstseins oder der mentalen Repräsentation)“ (Bourdieu 1991b: 484).

Ähnlich wie das symbolische Kapital wird die symbolische Macht sowohl als Überfor- mung und Legitimation ökonomischer Ungleichheiten gedacht, als auch – wenn von männlicher Herrschaft die Rede ist – als eigenständige Herrschaftsform, die quer zu den jeweiligen Produktionsverhältnissen verlaufen kann.

Hier schöpft Bourdieu die Stärken seiner Theorie nicht voll aus. Er betont einerseits, dass in der Dimension des „Kennens“ sich selbst verfestigende Herrschaftsverhältnisse erzeugt werden. Männliche Herrschaft ist langfristig stabil und bedingt deutlich unglei- che Lebenschancen. Andererseits behandelt Bourdieu Klassifikationen wie Alter, Ge- schlecht und Ethnizität als nachrangige Akzentuierungen eines primär durch ökonomi- sches und kulturelles Kapital strukturierten sozialen Raumes. Geschlecht ist aber selbst als Strukturkategorie anzusehen, die Ungleichheit nicht nur symbolisch umrankt, son- dern sie auch materiell strukturiert.^11 Wie ich an anderer Stelle für den Gegenstand Ras-

(^11) Ein Überblick dieser Debatte findet sich bei Cyba 2000.

sen, besteht bei anderen der einzige Makel darin, dass sie „überflüssig“ sind, dass also die Anzahl der Positionen, die von den Organisationen angeboten werden, deutlich klei- ner ist als die Anzahl der Personen, die zu diesen Positionen passen würden. Aus Sicht der Organisation wäre es wenig effektiv, wenn alle prinzipiell passenden Personen für die Besetzung von Rollen in Betracht gezogen würden. Z.B. wird eine Wirtschaftsorga- nisation nicht weltweit um Personal werben, wenn sie über die sozialen Netze ihrer Be- legschaft ausreichend qualifizierte Bewerber finden kann. Auch die Folgen demokrati- scher Entscheidungen betreffen unter Globalisierungsbedingungen viele Menschen, die vom Wahlsystem der „entscheidenden“ Staaten nicht erfasst werden. Die Lücke zwi- schen der Offenheit moderner Institutionen und ihrer Fähigkeit, ein Überangebot an potenziellen Rollenträgern zu verarbeiten, wird nicht selten explizit oder implizit von Herrschaftsverhältnissen geschlossen (Weiß im Erscheinen). Dann leisten Klassifikatio- nen wie Geschlecht und Rasse einen eigenständigen Beitrag zur Abweichungsverstär- kung zwischen als heterogen gedachten Ungleichheiten und Teilsystemen bzw. Feldern.

5. Schlussbemerkung

Trotz gänzlich verschiedener Ausgangspunkte weisen die ungleichheitssoziologischen Einsichten von Bourdieu und die Exklusionstheorie von Luhmann etliche Ähnlichkeiten auf. Eine Ausdifferenzierung des Ungleichheits- bzw. Exklusionsbegriffs führt in bei- den Theorien zu einer Auseinandersetzung mit der Chance bzw. Unwahrscheinlichkeit einer Klassenbildung. Bei Bourdieu gewinnt die Heterogenität von Ungleichheiten da- durch Gestalt, dass akkumulierte Arbeit in Form von ökonomischem und kulturellem Kapital strukturierend auf die anderen Ungleichheiten wirkt, so dass „Klassen auf dem Papier“ als Cluster von Menschen mit ähnlicher Kapitalverteilung bestimmt werden können. Bei Luhmann verdichtet sich Negatives: Während Inklusionen temporär blei- ben und sich ihre Effekte nur lose aufeinander beziehen, ist der Exklusionsbereich durch eine Folge sich verstärkender Exklusionen gekennzeichnet. Sieht man von den grund- sätzlichen Differenzen zwischen den beiden Theorien ab, so kann man ihnen komple- mentäre Stärken zuschreiben. Bourdieu bietet ein differenziertes Modell für den Inklu- sionsbereich moderner Gesellschaften, während bei Luhmann sichtbar wird, dass die Exklusion aus den Funktionssystemen der Gesellschaft von erheblicher Bedeutung für die Verfestigung von Ungleichheit ist.

Beide Theoretiker sind skeptisch, was die Ableitung sozialer Klassenbildung aus objek- tiv bestehenden Ungleichheiten angeht, setzen sich aber dennoch mit der Frage ausein-

ander, wie Klassenlagen theoretisch zu rekonstruieren wären. Luhmann kritisiert die „klassischen Theorien der Klasse“ dafür, dass sie nicht ausreichend präzise benennen, auf welche Weise sich Ungleichheiten aus einem Teilsystem auf andere Teilsysteme übertragen sollen. In Antwort auf diese Kritik wurden im dritten und vierten Teil des Beitrags Modi der Abweichungsverstärkung untersucht, die zur Herausbildung konsi- stenter Klassenlagen führen könnten. Dass mehrere Modi der Abweichungsverstärkung denkbar sind, wirft die Frage auf, ob diese miteinander kompatibel sind bzw. ob eine Untersuchung von Modi der Abweichungsverstärkung nicht selbst zu einer weiteren Ausdifferenzierung und Auflösung des Ungleichheitsbegriffs beiträgt.

Man wird das Pro und Contra einer Klassenbildung derzeit kaum abschließend bearbei- ten können. Eines lässt sich aber festhalten: Die Annahme, dass Klassenbildung nur auf Abweichungsverstärkung im Leistungsbereich zurückgehen kann, ist verkürzend. Im Weltmaßstab mindestens ebenso wichtig sind aneinander gekoppelte Exklusionen. Da- bei handelt es sich nicht etwa um die beiden Seiten einer Medaille. Der Exklusionsbe- reich ist gerade nicht durch einen relativen oder absoluten Mangel an Kapital gekenn- zeichnet, sondern es werden Personen nach kontingenten Kriterien exkludiert, die im Prinzip für die Funktionssysteme anschlussfähig wären, die aber in der Beobachtung durch Organisationen überflüssig sind. Umgekehrt führt Kapitalbesitz, der für ein Funk- tionssystem oder Feld relevant ist, nicht zwangsläufig zu positiven Erträgen in anderen Bereichen. Im Inklusionsbereich bedarf es genauerer Analysen, die zwischen universell ausstrahlenden, partiell wertvollen und hochspezifischen Kapitalsorten unterscheiden.

Ob sich mit einer erweiterten Vorstellung von Abweichungsverstärkung erneut konsi- stente Klassenlagen nachweisen lassen, sei dahingestellt. Die Irritationen, von denen der Dialog zwischen Ungleichheitsforschung und Systemtheorie gekennzeichnet ist,^12 lie- ßen sich aber leichter überwinden, wenn man Klassenbildung nicht länger auf eindi- mensional gedachte Ungleichheitsverhältnisse oder einen einzigen Modus der Abwei- chungsverstärkung reduzieren müsste.

Literatur Altvater, E. & Mahnkopf, B. (2002). Globalisierung der Unsicherheit. Arbeit im Schatten, schmutziges Geld und informelle Politik. Münster: Westfälisches Dampfboot. Beck, U. (1983). Jenseits von Klasse und Stand? Soziale Ungleichheit, gesellschaftliche Indivi-

(^12) Als zwei Beispiele unter vielen seien Kronauer 2002: 126ff und Luhmann 1997: 774, FN 331 ange- führt.