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Über die Verrohung der Gesellschaft. Von Gerda Hollunder. Das gesellschaftliche Klima ist härter geworden, ja, der Wind weht weitaus rauer. Diese Metapher.
Art: Mitschriften
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Von Gerda Hollunder Das gesellschaftliche Klima ist härter geworden, ja, der Wind weht weitaus rauer. Diese Metapher begleitet uns seit längerem, seit die Kluft zwischen reich und arm größer und die wirtschaftlichen Verteilungskämpfe schärfer geworden sind, so dass sehr viele Menschen sie am eigenen Leib spüren. Ist die Gesellschaft deswegen nun auch roher in den Stürmen von Globalisierung, von Rationalisierung und Umverteilung der Einkommen nach oben? Erweist sie sich als verhärtet in der eisigen Luft der Ellenbogengesellschaft? Brutalisiert unter lauter vereinsamten, gemeinschaftsunfähigen, empathiearmen Egos? Schlimmer als in Zeiten, in denen es auch schon Klassenkeile, Nachbarschaftskloppereien, Fußballrandale, Straßenkämpfe unter Jugendlichen und Vandalismus gab?
Die Kriminalstatistik sagt nein, die Polizei, die Lehrer, die Psychologen, die Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel, die meisten von uns erleben die Entwicklung anders. Mobbing an Schulen, nicht nur in den Problemvierteln, nimmt zu. Rechte Gewalt nimmt zu. Verkehrsrowdytum nimmt zu. Vandalismus auf Sportplätzen nimmt zu. Die Heftigkeit scheinbar unmotivierter Attacken nimmt zu. Das macht Angst.
Aber Gewalt ist nicht gleich Gewalt. Der politische Terror aus den 70er und 80er Jahren machte auch Angst und ist furchtbar, wenn er schießt und bombt. Wir verurteilen ihn, aber wir können ihn wenigstens einordnen, wenn schon nicht verstehen. Da erkennen wir Muster aus Jahrhunderten von Streit, ideologischer Differenz und Krieg.
Die Gewalt heute, für die wir keine Muster zu haben meinen, beunruhigt und verstört viele von uns sehr viel mehr. Ich meine diese diffusen Gewalteinbrüche in den Alltag, die Bedrohung bürgerlich geordneter Normalität. Woher diese zunehmende kaltblütige, gefühllose Brutalität von jungen Menschen, Kindern manchmal? Vielleicht nur wegen eines Handys hauen sie Wehrlose bis zur Bewusstlosigkeit, treten, stechen, schießen sie? Das ist kein Kräftemessen unter Gleichen, nein, der Stärkere sucht und traktiert den Schwächeren. Was geschieht da bei uns mitten im Frieden?
Alle fragen: Sind die Medien schuld? Berichten sie zu viel? Bieten sie sich zu sehr an als Bühne für verkümmerte, aber monströse Egos? Geht es um kommerzialisierten Voyeurismus, um immer schriller werdende Events, um pure Effekthascherei? Sicher auch. Aber die Medien stellen die wachsende Gewalt nicht wirklich falsch dar oder rufen sie gar hervor. Die Boulevardpresse benutzt offenkundig die Sensationslust ihrer Leser und dramatisiert deswegen gern. Aber sie bleibt trotzdem nur der Bote schlechter Nachrichten, sie ist nicht ihr Verursacher.
Und was ist mit dem Internet, mit den brutalen Spielen? Was ist mit den Erziehern, den Familien, den Lehrern, den Kumpeln und Freunden?
Im vielstimmigen Konzert von Antworten gibt es, wie ich meine, einen Grundton: Es ist der Sound der Entgrenzung, die gefeierte Melodie der Maßlosigkeit. Im Dur-Thema sind es die scheinbar positiven Grunderfahrungen, die mitschwingen: oh Freiheit, du grenzenlose! Reisen, wohin man will, das Überall-Sein, Produkte aus aller Welt bei uns, weltweite Vernetzung von individueller und von Massenkommunikation, Wegfall von Kontrolle, anything goes - Freiheit
Nellenburg Gymnasium Stockach Kursstufe, Klasse 12
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eben. Die Mollsequenzen heißen Globalisierung, Verschwinden von Vertrautem und Sicherheiten in scharfem Tempo, Verlust von anerkannten Autoritäten, Schwund von gemeinsamen Überzeugungen, bei manchen bis hin zur Auflösung der bewährten Grundregel menschlichen Zusammenlebens: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu. Genau da müssten wir den Kontrapunkt setzen. Die Gesellschaft hält die Entgrenzung unserer Lebensbezüge ins Beliebige nicht aus. Sie könnte zerreißen ohne innere Stabilität, ohne verbindliche Regeln, ohne erneuerten Gesellschaftsvertrag. Wir müssen uns über die Eingrenzungen des prinzipiell Möglichen verständigen. In der Gentechnik, in der Benutzung der Umwelt, auch im Umgang der Menschen miteinander. Dafür brauchen wir frische Schubkraft. Worin könnte sie bestehen? Vielleicht doch in der Vernunft, die gebietet, aus Einsicht das Notwendige zu tun? Die gute alte Aufklärung also? Ich weiß, für Pessimisten hat sie versagt. Allerdings, wo wären wir ohne die Idee vom gemeinnützigen Eigennutz? Sie lässt sich zwar nicht einfach genetisch programmieren. Aber die Option ist in uns allen. Gebrauchen wir doch den rechten vorderen Hirnlappen, in dem der Verstand wartet. Worauf? Das wissen wir wirklich genau: Alle Kraft gehört in Erziehung und Bildung, die ihren Namen verdienen, die Energie und Geduld brauchen und die viel kosten. Ein gutes Beispiel geben, das kostet Anstrengung, zuhause, bei der Arbeit, überall. Und Standfestigkeit sollten wir haben und klare Ansagen machen: Das geht, das geht nicht. Das nehmen wir hin, das nicht. Wir sagen: Hier ist die Grenze. Sogar: Das ist ein Tabu! Wir kommen mit wenigen aus, eines wäre: Mit dem Leben anderer spielt man nicht. Ein anderes: Auch mit Toten spielt man nicht, in Afghanistan nicht, im Internet nicht. Ein drittes: die Würde der Lebenden. Der Mensch darf nicht zum Objekt eines leichtfertigen Spiels werden, das demütigt, quält und all die Erniedrigungen, aufgenommen per Handy-Kamera, öffentlich im Netz zur Schau stellt.
Verstand haben wir, Vernunft müssen wir lernen und üben, üben, üben. Eine sinnvolle Aufgabe für jeden an seinem Platz, Delegation nicht möglich. Kein Rezept gegen das Böse schlechthin, aber ein gutes Mittel gegen gesellschaftliche Entgleisungen und gegen falsche Angst.
Aus: deutschlandfunk, 29.11.
1. Arbeite die Kernaussagen des Textes unter der Berücksichtigung seiner **Struktur und sprachlichen Gestaltung heraus.
Angaben zur Verfasserin: Gerda Hollunder, Jahrgang 1940, in Beuthen/Oberschlesien geboren, Buchhändlerlehre in Essen, Studium der Germanistik u. Geschichte in München, Karriere beim Hörfunk mit den Stationen BR, WDR und Deutschland Radio Berlin, 1994-2004 Programmdirektorin.
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